Heft 
(2019) 107
Seite
189
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Tagungsbericht  Genzel 189 Idee im Material ihre Verkörperung. Zum anderen würden Bücher auf diese Wei­se zum Ort der Verdichtung von Wissen werden. Mike Rottman(Halle/Freiburg) wiederum stellte Nietzsches Autorenbiblio­thek als Teil des Schaffensprozesses in den Vordergrund seines Vortrags»Verste­hendes Entziffern entzifferndes Verstehen. Oder: Wie interpretiert man Lese­spuren?« Ausgehend von grundsätzlichen Fragen nach den Potentialen und Risiken, die sich bei Einbeziehung der Lese- und Gebrauchsspuren in die Inter­pretation von Werken ergeben können und der damit verbundenen Suche nach Lösungsansätzen, verwies Rottmann auf das Prinzip vom ›doppelten Verstehen‹. Dabei müsse sich der Interpret von Lektürespuren sowohl zu dem annotierten Text als auch zu der in Frage stehenden und durch Lesespuren sichtbar geworde­nen Auseinandersetzung eines ihn interessierenden Lesers in Beziehung setzen. So gelte es auch das Verhältnis zwischen dem gelesenen Text und den Lektürespu­ren zu der darauffolgenden Interpretation zu bestimmen, um Nietzsches Lesespu­ren interpretieren bzw.»verstehend entziffern« zu können. Auch in dem Vortrag»Border Lines. Zeichen am Rande des Sinnzusammen­hangs« von Magnus Wieland(Bern) nahm das»doppelte Erkenntnisinteresse« eines Interpreten bzw. die ›Beobachtung zweiter Ordnung‹(Niklas Luhmann) eine entscheidende Rolle ein. Anhand von konkreten Beispielen nämlich mehreren, von unterschiedlichen Autoren annotierten Exemplaren von Prousts Recherche führte Wieland einen Vergleich von Marginalien durch. Dabei betonte er, dass Marginalien aufgrund ihres privaten Charakters, ihrer räumlichen Begrenzung und ihrer Spontanität als verhältnismäßig unreflektierte Kommentare begriffen werden müssen, die oftmals in keinem konkreten Zusammenhang mit der Genese einzelner literarischer Texte ständen. Im Hinblick darauf verwies Wieland auf die Notwendigkeit einer diachronen Betrachtung von Lesespuren, die tief in die Schichten einer oder mehrerer Lesebiographien reiche. Im Zuge der vorrangig habituellen Annotation des 20. Jahrhunderts würden Lesespuren vermehrt Gele­genheitsspuren darstellen, die eine wichtige Grundlage für die Nachvollziehbar­keit von Leseprozessen liefern. Dabei gelte es, Bücher und Textstellen mit Annota­tionen ebenso zu beachten wie Bücher ohne Lesepuren, die auch ein besonders starkes Interesse markieren können. Gleichermaßen sollten Marginalien stärker in ihrer eigenen Wertigkeit und»Genialität« beachtet werden: die Autorenbiblio­thek erweise sich entsprechend als Artikulationsraum, der über das gedruckte Werk hinausreiche. In Anbetracht der besonderen Bedeutung von Autorenbibliotheken als Reflex des Arbeits- und Leseprozesses sowie der Gedankenwelt eines Autors galt es zu­gleich nach ihrer Definition vor dem Hintergrund des je spezifischen Nachlassbe­wusstseins zu fragen. So wendete sich Anke Jaspers(Zürich) in ihrem Vortrag »›The way to a man´s heart‹.(Frau) Thomas Manns Bibliothek?« der Bedeutung des Namens»Thomas Manns Nachlassbibliothek« zu und konzentrierte sich da­bei vorrangig auf das Profil sowie die dynamische Geschichte der Bibliothek. In Anlehnung an eine multiperspektivische Betrachtung von Thomas Manns ­Bibliothek führte Jaspers anhand von Buchexemplaren vor, wie sich die kollek­tive Arbeit von Katja und Thomas Mann in die jeweiligen Bibliotheken ein­geschrieben habe. Während viele Provenienzspuren auf Netzwerke von Thomas Mann verweisen würden und Lesespuren ihn als Leser, Sammler und Annoteur erkennbar werden lassen, würden Bände aus anderen Bibliotheken, Lesespuren von fremder Hand und Widmungen an Katja Mann innerhalb der Bibliothek den Eindruck einer Paar- bzw. Familienbibliothek liefern. Demzufolge und im