110 Fontane Blätter 103 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Netzwerkes und der Materialmasse, die sich damit erzeugen ließ, mit Rückgriff auf ein Kreativitätsmodell. In einem Brief, mit dem er seinem Freund Georg Friedlaender von einem Besucher erzählte, den er jüngst zu Gast hatte, schrieb Fontane:»Ich amüsirte mich sehr und empfand wieder, daß es nicht wohlgethan ist sich in seinem Verkehr auf 3 Menschen zu beschränken. Man lernt sich bald gegenseitig auswendig, was das Interesse mindert und den Einzelnen rasch entwerthet.« 31 Fontanes Anspielung auf das Auswendiglernen setzt die Auswirkungen einer kleinen Anzahl von Quellen mit dem auf imitatio basierenden Bildungsmodell der Lateinschulen gleich, einem Modell also, das zur Wiederholung derselben Inhalte aufforderte und gerade nicht zur Produktion von genuin Neuem. Umgekehrt drückt Fontanes Vergleich aus, dass gerade die Materialmasse die Pertinenz einzelner Elemente sicherstellt und somit Alternativen zu bloßer imitatio bieten kann. Der Preis jedoch, den der Bibliotheksnutzer für die Abkehr von der imitatio zu zahlen hatte, war die Unberechenbarkeit, die die Material-Überlast mit sich brachte. 32 Der Punkt der Überlastung(und der sich somit einstellenden Unberechenbarkeit) war zugleich der Punkt, an dem Fontanes Bibliothek in der Vollform entstand. Historisch ist er nicht exakt zu datieren. Gewinnbringender ist das epistemologische Argument, dass die Bibliothek in dem Moment ihre Vollform erreichte, als sie begann, Fontane zu überraschen – das heißt, als sie begann, zusätzlich zu bestellten Quellen auch unaufgefordert Material zu generieren, und zwar ganz einfach deswegen, weil die offene Struktur und das Potenzial für Rekombination innerhalb der virtuellen Bibliothek Fontanes Wissen über die Inhalte überstieg. 33 Die medialen Eigenschaften der Fontaneschen Bibliothek und der Umgang des Autors mit ihr führten zu unregelmäßigen Konkretisierungen des Materials. Die virtuelle Bibliothek wurde Wirklichkeit in handfesten Stapeln von Büchern und Texten, deren Kohäsionsregeln sich ständig änderten. Das von der postalischen Bibliothek bereitgestellte Material war »massenhaft« 34 um Fontane ausgebreitet und erzeugte temporäre Intensitätsfelder. Sobald die Ausleihfrist vorüber war und Fontane das Material zurück in die Virtualität seines Netzwerks schickte, verschwanden diese Felder wieder, doch neue entstanden mit dem Empfang weiterer Lieferungen. Fontane betrieb somit eine zweigesichtige Bibliothek, in der sich eine virtuelle und weiche innere Architektur sowie potenziell unbegrenzter Umfang mit der greifbaren Materialität der erzeugten Inhalte verbanden. Die Medialität seiner eigentümlichen Bibliothek ließ den Autor somit ganz wörtlich in touch mit einem Übermaß von Material sein. Dieser Modus der direkten Berührung prägte auch Fontanes Lektürepraktiken.
Heft
(2017) 103
Seite
110
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