Heft 
(2017) 103
Seite
111
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Ein kreativer Apparat McGillen 111 3. Die Poetik brutaler Lektüre Fontane begegnete den mitunter nicht mehr kalkulierbaren Materialmas­sen, die sein Bibliotheksnetz bereitstellte, mit einer Lektüretechnik, die in der Geschichte des Lesens unter dem Stichwort der»brutalen Lektüre« 35 bekannt ist. Brutale Leser kennzeichnet, dass sie sich ganz von Affekten leiten lassen und sich um die Angemessenheit ihres Tuns nicht sorgen; sie brechen die ihnen vorliegenden Texte rücksichtslos in Stellen auseinander, die ihr Interesse fesseln, und ignorieren den dazwischenliegenden Rest. 36 Fontane, wie im Folgenden gezeigt werden soll, verkörperte nicht nur ei­nen solchen»brutalen« Leser in Reinform, sondern diese Lektüretechnik erlaubte es ihm geradezu, mit dem Material, das sein Bibliotheksnetz im Übermaß erzeugte, kreativ zu verfahren. Fontanes wichtigste Lektüre­technik verwandelte Lesen von einem überwiegend rezeptiven in einen äußerst produktiven Akt und regte zu einer Poetik der Rekombination an, die mit steigenden Materialmassen immer erfinderischer wurde. Die Voraussetzung für brutale Lektüre ist eine gleichermaßen emphati­sche wie gelöste Haltung gegenüber dem Text, denn es handelt sich hierbei um eine Lesetechnik, die sich in einem Moment voll und ganz auf den Text einlassen kann, nur um im nächsten Moment wieder loszulassen, und die somit zwischen Immersion und freiem Textumgang hin und her wechselt. Fontane realisierte diese Haltung vollkommen durch ein Repertoire virtu­oser Lesetechniken, mit denen er sämtliche Parameter der Lektüre, also Ansatz, Tempo, Aufmerksamkeit, Intensität und Dauer, ad libitum manipu­lierte. Jeder dieser Parameter Lesen mit schneller oder langsamer Ge­schwindigkeit; auf den Punkt genau konzentriert oder mit schwebender Aufmerksamkeit; mit hoher oder niedriger Intensität; selektiv auf der Jagd nach etwas Bestimmten oder stöbernd; von Anfang bis Ende oder stellen­weise konnte in diesem Repertoire mit jedem anderen in Kombination auftreten. Die Tiefe dieses Repertoires ist in Fontanes zahlreichen Selbst­beschreibungen seiner Lese-Akte gespiegelt; sie reichen von»durchstö­bern« 37 ,»durchblättern« 38 ,»schmökern« 39 und»überfliegen« 40 via»durch­sehen« 41 ,»von a bis z durchlesen« 42 ,»wissenschaftlich durchstudieren« 43 , »extrahieren« 44 sowie»zerlesen« 45 bis hin zu»sich vertiefen« 46 ,»den Text langsam trinkend zu sich nehmen« 47 ,»sich den Text vorlesen lassen« 48 , »über den Text herfallen« 49 und schließlich»sich wie blind und toll darauf stürzen« 50 . Fontanes ausführlichere Selbstbeschreibungen fügen diesem Bild wei­tere Facetten hinzu und verdeutlichen, dass viele seiner virtuosen Fähig­keiten darauf ausgerichtet waren, Texte zu verlebendigen und ihre Wir­kung zu erhöhen, nahezu unabhängig davon, wie die Texte selbst beschaffen waren und welchen Genres sie angehörten. 51 Das lässt sich be­sonders gut an den zahlreichen Fällen beobachten, in denen Fontane