112 Fontane Blätter 103 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ungeachtet dessen, ob er ein Gedicht, eine Buchbesprechung oder beispielsweise auch ein historisches Dokument vor sich hatte – mit allen Sinnen las. Der Autor übersetzte seine Lektüreerfahrung in Körperbewegungen und starke Affektreaktionen(wie Freudentränen, Fiebrigkeit, Schwindel sowie emotionale Ausbrüche), griff auf diätetische Metaphern zurück und fällte nicht zuletzt drastische Werturteile über die Texte. 52 Fontanes Virtuosität erwies sich somit als Antwort auf die Herausforderungen, die das im Übermaß eingehende und heterogene Material an den Leser stellte. Die Verlebendigungsstrategien halfen, beim Lesen kontinuierlich Unterscheidungen im Material zu treffen, statt angesichts der Textmassen einfach abzuschalten. Unter derart gesteigerten Bedingungen war Fontane in der Lage, als brutaler Leser zu agieren und die Lesetechnik – die er selbst nicht»brutal« nannte, sondern als»meine sprungweise Methode« 53 bezeichnete – auszuführen. Dieser Technik traute er starke poetologische Auswirkungen zu. In der Tat sah Fontane brutale Stellenlektüre als einen»Kreativitätsapparat« an, wie aus einem äußerst instruktiven metaphorischen Vergleich in den privaten Lektürenotizen des Autors hervorgeht. In einer Notiz, in der Fontane sich zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller sowie Schopenhauers Parerga und Paralipomena äußerte, hielt er fest: »Eben habe ich 30 Seiten im Schiller-Goethe-Briefwechsel gelesen. Alles sehr fein, vornehm und bei vieler Reserviertheit doch eine schöne Offenheit. Nichtsdestoweniger wirkt es im Vergleich zu Schopenhauers Schreibweise insipide, beinah langweilig. Ich möchte Goethe/Schiller mit einer Voltaschen Säule, Schopenhauer mit einer geladenen Leydener Flasche oder mit einer in Tätigkeit begriffenen Elektrisiermaschine vergleichen. Der galvanische Strom jener ist von großer Kraft, aber er blitzt und leuchtet nicht wie der überspringende Funke.« 54 Bemerkenswerterweise befasst sich Fontanes Kommentar nicht mit dem Inhalt der Schriften Goethes, Schillers und Schopenhauers; vielmehr geht es um ihre jeweiligen Stile oder Schreibweisen, die Fontane als die eigentlichen Energiequellen der Texte ausmacht. Die Schreibweisen unterscheiden sich darin, dass der Briefwechsel Schiller/Goethe einen thematisch zusammenhängenden Dialog entfaltet, wohingegen es sich bei S chopenhauer um einen aphoristischen Text handelt. Wie der Titel schon sagt, präsentiert Schopenhauers Text»vereinzelte« Gedanken und erfordert schon qua Genre eine andauernde Stellenlektüre. Genau dieser Stellenlektüre – einer Lektüre, zu der es keinen Kontext gibt und die in Sprüngen verfährt – unterstellt Fontane die stärkeren»elektrisierenden« Eigenschaften: Während die Schreibweise Schillers und Goethes eine Lektüre in Gang bringt, die wie eine»Voltasche Säule« gleichmäßig Strom erzeugt, figuriert die Stellenlektüre in Fontanes Beschreibung als elektrostatischer Generator und somit
Heft
(2017) 103
Seite
112
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