Ein kreativer Apparat McGillen 113 als eine Maschine, die kurze, aber schwere Stromschläge mit hoher Ladung produziert. Diese besondere Leseweise, so Fontanes Notiz, entzündet den Funken, der dann auf den Leser überspringt. Entscheidend an dieser Passage ist, dass Fontane die uralte Kreativitätssemantik, den»zündenden Funken«, mit einem technischen Apparat unterfüttert, der, einmal zum Laufen gebracht, eine wiederholbare Aufgabe ausführt. Wenn man dieses Bild als Fontanesche Selbstbeschreibung der»sprungweisen Methode« ernst nimmt, tritt ihre poetologische Funktion klar hervor: Brutale Lektüre ermöglicht es Fontane, die»Elektrisiermaschine« anzuwerfen und in Texten, die von sich aus weder aphoristisch noch anderweitig anregend sind, elektrisierende,»digressive Energie« 55 freizusetzen. Unter Rückgriff auf sein ganzes virtuoses Technik-Repertoire springt Fontane in seinen Texten umher, reißt Stellen aus ihren Kontexten, bringt sie miteinander in Kontakt und entfacht auf diese Weise»Funken«. Fontanes Tagebücher und separate Lektürenotizen belegen sowohl die Häufigkeit als auch die Kunstfertigkeit, mit der er diese Leseweise zur Anwendung brachte; immer wieder ist die Rede davon, wie er»in« einem Text liest und nicht den Text als ganzen. Typische Tagebucheinträge lauten:»In Storm und Heines Romanzero gelesen« sowie»In Gneist’s Buch gelesen.« 56 (Bemerkenswert ist an diesen Einträgen auch, dass sie überhaupt nicht spezifizieren, mit welchen von Storms Schriften der Autor sich beschäftigt hatte). In unregelmäßigen Abschnitten vorgehend, sprang der»brutale« Leser Fontane von Text zu Text und Buch zu Buch und kombinierte uneingeschränkt Autoren und Genres. Auf diese Weise pendelte er wiederholt zwischen Scotts Waverley und Tales of a Grandfather, 57 las»Turgenjew und Lessing abwechselnd« 58 , kombinierte Goethe mit Schopenhauer und dann wieder Schopenhauer mit Jean Paul 59 oder schaltete»halbstündig wechselnd« zwischen den Essays zweier Historiker hin und her. 60 Der brutale Leser Fontane nahm zwei technische Vorrichtungen bei der Ausführung seiner Kunst, dem Funkenschlagen aus Stellen, zu Hilfe, was die Wichtigkeit der besonderen Lesemethode für den Arbeitsprozess des Autors unterstreicht. Zum einen handelte es sich dabei um einen»Fangeball«, der auf Fontanes Schreibtisch stand und sich als nützlich erwies, wenn Fontane stundenlang ohne Unterbrechung las. Der Fangeball regte einige der Fähigkeiten an, die essentiell für brutale Lektüre waren, nämlich rhythmisierte Bewegung und augenblickliche Konzentration, um den Ball (bzw. eine Textstelle) im richtigen Moment zu erwischen. 61 Bei der anderen Vorrichtung handelte es sich um eine besondere Einband-Art, die es Fontane erleichterte, eine große Anzahl von Seiten mit hohem Tempo zu durchblättern und darin herumzuspringen. In unregelmäßigen Abständen bat der Autor einen seiner Berliner Buchbinder, die Stapel von Zeitungen,Zeitschriftenausgaben und lose Blätter zu bündeln, die in seiner Wohnung
Heft
(2017) 103
Seite
113
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