114 Fontane Blätter 103 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte verstreut herumlagen, und zwischen starke Einbanddeckel zu bringen. 62 Da es sich hierbei um billige Einbände handelte und der Buchbinder die Seiten recht grob auf die richtige Größe zuschnitt, liegt die Vermutung nahe, dass die Einbände nicht die Haltbarkeit, sondern die Benutzbarkeit des Materials erhöhen und die losen Blätter in eine buchähnliche Form bringen sollten, auf die der brutale Leser leichter zugreifen konnte. 63 Fontanes wichtigste Lektüremethode hatte starke poetologische Auswirkungen, die noch über den Effekt hinausgingen, den Fontane selbst mit dem»überspringenden Funken« beschrieben hatte. Vielmehr aktualisierte seine Methode eine alte rhetorische Erfindungstechnik, die ebenfalls auf gewagten Sprüngen von Textpassage zu Textpassage basierte. Das geht aus einem Brief hervor, in dem Fontane beschreibt, was er an der Zeitungslektüre»hochpoetisch« fand. Das»Hochpoetische« der Zeitung illustrierte er mit der Aneinanderreihung von Schlagwörtern, die aus einem schnellen Durchgang durch mehrere Ausgaben der Vossischen Zeitung zusammengezogen waren: »Ich lese die Zeitung mit der Andacht eines Philisters, aber mit einer Gesinnung, die das Gegenteil von Philisterium ist. Es vergeht kein Tag, wo nicht aus diesem elenden Löschpapier etwas Hochpoetisches zu mir spräche: der Kaiser und Bismarck, die stille und dann auch wieder laute Kriegführung zwischen beiden, die Hofpredigerpartei, Kögel, Stoecker, Dryander, Bazillus-Koch, Goßler, 2000 fremde Ärzte, Große-KurfürstenFeier, Wißmann und Dampfschiffe auf dem Victoriasee – das alles macht mir das Herz höher schlagen[…].« 64 Keine höhere Ordnung erklärt die thematischen Sprünge, die vom deutschen Kaiser über theologisch-politische Debatten zu einer MedizinKonferenz und schließlich zu Dampfschiffen auf dem Viktoria-See führen. Die rapide zusammengefügte und ungeregelte Kette von Anspielungen stellt vielmehr eine percursio dar, eine Anhäufung von»Summen ohne Details« 65 oder Überschriften ohne Haupttext. Nach den Regeln der Schulrhetorik verdiente es jede dieser Summen, weiter ausgearbeitet zu werden, doch die percursio zählt sie lediglich in einer übergangslos gestalteten Liste auf(»[...] Bazillus-Koch, Goßler, 2000 fremde Ärzte[...].«). Auf diese Weise kann der Rhetor bzw. Schriftsteller ein großes thematisches Gebiet mit hoher Geschwindigkeit durchqueren. 66 Fontanes»Summen« sind Topoi des zeitgenössischen Zeitungsdiskurses und markieren den Sitz von Argumenten in laufenden Debatten. Das ganze Verfahren erweist sich somit als Schnellversion der klassisch-rhetorischen Technik der inventio 67 : Während die Topoi, wie immer in der Rhetorik, als Mittel zum Auffinden von Formulierungen dienen und somit die Textproduktion erleichtern sollen, ermöglicht ihre rapide und ungeregelte Aufzählung dem Schriftsteller oder der Schriftstellerin, über typische Verbindungen von Themen hinauszugehen. Abweichungen vom Normalgebrauch, das Knüpfen neuer Verbindungen,
Heft
(2017) 103
Seite
114
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