Heft 
(2017) 103
Seite
115
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Ein kreativer Apparat McGillen 115 ist in der Tat»hochpoetisch«, ereignet sich aber nicht aus dem Nichts, son­dern angeregt von Fontanes»sprungweiser Methode«. Fontane machte den hier rekonstruierten Zusammenhang zwischen brutaler Stellenlektüre und rhetorischer inventio in einer Selbstbeschrei­bung verbindlich, mit der er an einer Umfrage zum Thema»Die Technik des künstlerischen Schaffens« teilnahm. Das Magazin Der Zuschauer hatte die Umfrage angestoßen und eine Reihe von zeitgenössischen Schriftstel­lern angesprochen, unter denen sich auch Fontane befand. 68 Fontanes Ant­wort war seine Technik: Wiederum wandte er eine percursio an diesmal etwas stärker geglättet als die abrupte Aufzählung von Substantiven im vorherigen Beispiel und unterstrich damit die Methode, die seiner Krea­tivität zugrunde lag: »Ich gehe im Thiergarten spazieren und denke an Bismarck oder an eine Berliner Schrippe oder an einen Spritzfleck auf meinem Stiefel und da fällt mir was ein, was ich ebenso gut auf den Kaiser von China wie auf die Lucca oder den Eckensteher Nante Strump beziehen kann. Kommt es mir aus einem traumhaften Zustande heraus zum Bewußtsein, daß das, was mir einfiel, einen passablen Anspruch darauf haben dürfte, der Welt mit­geteilt zu werden, so beginne ich mich mit der Form dafür zu beschäftigen, die heute so ist und morgen so. In der Regel wird überhaupt nichts draus; es verthut sich, es verfliegt wieder. Geht der Beschäftigungsprozeß aber weiter, so ist schließlich was da. Cest tout.« 69 Obwohl Fontane hier keinen Akt des Lesens beschreibt, ist das Prinzip doch dasselbe wie in seiner Erklärung des»Hochpoetischen« der Zeitungs­lektüre. Wie die Phrase»da fällt mir was ein« suggeriert, beschreibt Fon­tane seinen Schaffensprozess wiederum als von assoziativen Verbindun­gen vorangetrieben, die durch freie und fortlaufende Rekombination angeregt werden. Der Prozess ist offen; die Verbindungen sind zufällig, ephemer und beweglich, sodass sie meistens zu gar nichts führen; doch wenn der Prozess weiterläuft, kommt schließlich»etwas« dabei zustande. Fontanes Benutzung seines Bibliotheksnetzes machte den Moment, an dem etwas zustande kommen konnte, wahrscheinlicher. Das Bibliotheksnetz er­möglichte genau diese Art von radikal-assoziativer Poetik der Rekombina­tion und transformierte die Lektüre in einen Schauplatz technisch gestütz­ter Kreativität. Schlussendlich verwandelte Fontanes»sprungweise Methode« das ­Lesen von einem Akt produktiver Rezeption in einen Akt rezeptiver Pro­duktion. Der brutale Leser Fontane zeichnete sich durch ein besonderes Verhältnis zu Geschriebenem aus. Dieses Verhältnis war von der grund­sätzlichen Annahme geprägt, dass»Literatur ein Corpus[ist], das an jeder Stelle zerfallen kann in einzelne membra disjecta, welche dann zusam­mengefügt werden können zu einer neuen Ordnung« 70 . Fontane rückt da­mit in die unmittelbare Nähe technisch unterfütterten Kompilierens, einer