Heft 
(2017) 103
Seite
116
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116 Fontane Blätter 103 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ­frühmodernen Tradition, wonach Texte niemals vollendet sein können, sondern immer der Neuanordnung und Rekombination offenstehen. 71 Auf der technologischen Grundlage seines Bibliotheksnetzes übertrug Fonta­ne diese Tradition ins neunzehnte Jahrhundert. In seinen Notizbüchern und anderen Speichermedien häufte er membra disjecta aus einem Quel­lenspektrum an, wie es nur der entstehende Massenmedienmarkt mit sei­nem bis dato nicht dagewesenen Tempo und Umfang bereitstellen konnte, einem Spektrum, das sprichwörtlich von den Klassikern bis zur Regenbo­genpresse reichte. Fontanes Fall exemplifiziert, radikalisiert und überschreitet somit gleich mehrere Merkmale des neuen Massenmedienmarktes und die damit ver­bundenen Textpraktiken. Bezeichnenderweise hatten die meisten von ­Fontanes Schriftstellerkollegen für eben diese Merkmale nichts als Verach­tung übrig. Während Wilhelm Raabe, um nur ein Beispiel zu nennen, illus­trierte Familienblätter als Publikationsorte verabscheute, an denen seine Romane sich»prostituieren« mussten, schloss Fontane diese und andere Periodika ganz bewusst in seine Bibliothek ein. 72 Mehr noch: Wie gezeigt wurde, machte der Autor die Inklusion dieser Quellen sogar programma­tisch und behandelte die daraus erwachsende Material-Heterogenität nicht als Bedrohung oder Ärgernis auf dem Weg zu hoher Literatur, sondern als Basis für ein kreatives Verfahren, das von immer größeren assoziativen Sprüngen angeregt wurde. Fontane exemplifizierte daneben auch einige der Lesegewohnheiten, die Raabe, Hebbel und andere Autoren stark mit dem neuen Massenpublikum in Verbindung brachten und in jeder Hinsicht für ungut und gefährlich hielten: 73 Fontane las rücksichtslos im Interesse gesteigerter Wirkung; blätterte; war unbesorgt im Hinblick auf Dekorum und war rastlos. Zugleich ging er auf entscheidende Weise über die Ge­wohnheiten und das Können des Massenpublikums hinaus, da er in der Lage war, sein Lesen mit Hilfe eines virtuosen Repertoires von Fähigkeiten zu variieren. Die Virtuosität, mit der Fontane seine Lektüremethoden ver­änderte und sich auf Materialien ganz unterschiedlicher Komplexitätsstu­fen einlassen konnte, war wiederum grundlegend für die Vielseitigkeit sei­ner eigenen Textproduktion. Auf der Basis dieser Virtuosität konnte er Materialien der Hoch- und Populärkultur zusammenziehen und Texte her­vorbringen, die für den Markt geschrieben waren und literarische Qualität besaßen. 74 Die Ergebnisse der hier geleisteten Rekonstruktion fordern dazu auf, Untersuchungen des Fontaneschen Papier-Kosmos und auf allgemeinerer Ebene textueller Praktiken unter den Bedingungen des frühen Massen­medienmarktes neu auszurichten. Ersichtlich geworden ist, dass Fontanes Lektürepraxis von einem Apparat gestützt wurde, der Material im Über­fluss erzeugte, Werk- und Genre-Grenzen überschritt und immer neue kompilatorische Rekombinationen möglich machte. Für Analysen des