Theodor Fontane: Dichter und Romancier Wehinger 131 seines Arbeitszimmers auf die Dächer der gegenüberliegenden Häuser richtet; den Blick nach unten auf die morgendlich quirlige Potsdamer Straße hatte er dagegen in dem Gedicht Würd es mir fehlen, würd ich’s vermissen in köstlichen Versen längst beschrieben. Und er beobachtet, wie bei untergehender Sonne drei junge Mädchen auf dem Flachdach gegenüber eine dort aufgestellte Minerva-Statue scheinbar in ihren Reigen einbeziehen. Er weiß, daß es eine poetische Täuschung ist. Aber»etwas war nicht Täuschung gewesen: drei Mädchen aus dem Volk hatten sich auf dem Flachdach mir gegenüber in anmutigem Tanze gedreht und unsrem Alltagsleben auf Minuten etwas von dem gegeben was unserem Leben am meisten fehlt – einen italischen Hauch, etwas von der Grazie des Südens.« Die zahlreichen Schreibansätze und Korrekturen belegen, wie ihn das reizende abendliche Genrebild angeregt und bewegt hat. Dergleichen Preziosen findet man beim Blättern und Schmökern, und sie garnieren die streng wissenschaftliche Edition auf vorteilhafte Weise. Gotthard Erler Theodor Fontane: Dichter und Romancier. Seine Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Richard Faber. Würzburg: Königshausen& Neumann 2015. 303 S.(=Fontaneana Band 14)€ 39,80 Der»Romancier« steht im 14. Band der Fontaneana, herausgegeben von Hanna Delf von Wolzogen und Richard Faber, mit sieben Beiträgen im Mittelpunkt der literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, während dem»Dichter« – hier: dem Balladen-Dichter – zwei und der Fontane-Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert vier Beiträge gewidmet sind. Diese Studien gehen auf eine Potsdamer Ringvorlesung zurück und bieten rezeptions- und literarästhetische, kultursoziologische und kulturphilosophische Fragestellungen, profund recherchierte historische Kontexte, diskussionsfreudige Thesen. Gibt es»ein balladeskes Weltbild« in Fontanes Balladen, so lautet eine Frage, die Rüdiger Görner in seiner breit angelegten Untersuchung zu dem von Fontane favorisierten poetischen Genre stellt und auf die in den Dichtungen aufgegriffenen historischen Stoffe(vor allem der englischen und schottischen Geschichte) projiziert. R. Görner vertritt die These, Fontanes Balladen können als»Antwort auf Nietzsches Frage nach dem ›Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹ gelesen werden«. Ralf Georg Czapla präsentiert sowohl die Genese als auch die einschlägigen kulturhistorischen Referenzen der Ballade Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland(1889) und weist mit starken Argumenten nach, dass es sich bei diesem Schulbuch-Klassiker um ein dezidiert reformpädagogisches
Heft
(2017) 103
Seite
131
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