Theodor Fontane: Dichter und Romancier Wehinger 133 Mit Thomas Mann, gegen die These zum Smalltalk von Hans Blumenberg, arbeitet sie Fontanes Ästhetik des Gesprächs heraus und weist überzeugend nach, dass sich in Die Poggenpuhls die ›Lust am Text‹ exklusiv in den kunstvoll gestalteten Gesprächen der Romanfiguren entfaltet, die nichts anderes tun und tun können als reden. Ihre These zu Fontanes Gesprächskunst und mithin zu Fontanes Philosophie des Gesprächs ließe sich ohne weiteres auf den Stechlin anwenden. Den Roman Stechlin beleuchten die Beiträge von Elmar Locher und Achim Geisenhanslüke: E. Locher diskutiert eingangs das Verhältnis von »Wort« und»Wert«(bzw. Bedeutung) im Denken Ferdinand de Saussures sowie zeitgenössische Geld- und Wertediskurse und lenkt den Blick auf die Rolle des Geldes in den Gesprächen der Romanfiguren. Wie in Die Poggenpuhls wird im Stechlin ja auch unermüdlich, umschweifend, beiläufig und in – heute nicht ganz einfach dekodierbaren – Anspielungen geredet. Dabei geht es, wie E. Locher überzeugend darstellt, immer wieder um das Geld und dessen Wert. Eine andere, gleichermaßen aufschlussreiche Dimension der Gespräche, die im Stechlin insgesamt weniger belanglos erscheinen als in den Poggenpuhls, analysiert A. Geisenhanslüke im Rekurs auf Walter Benjamins Interpretationsthese zu den Wahlverwandtschaften Goethes. Dabei geht es ihm um die Unterhaltungen zur Wahl der Lebenspartner/innen, das Reden über Ehe, Ehelosigkeit, Eheglück und EheUnglück im Stechlin. In den Fokus werden die im vielfachen Wortsinn »unerhörten« Paare gerückt: Woldemar und Armgard, Melusine und Pfarrer Lorenzen sowie Dubslav Stechlin und Agnes. Eindrucksvoll gelingt A. Geisenhanslüke die Analyse der literarischen Gestaltung der Gespräche über das Aufkommen des Neuen, den Untergang des Alten und schließlich des stillen,»schmerzlosen« Sterbens»eines Alten«. Die wirkmächtige literarische Gestaltung des Gedenkens der Toten in Fontanes Werk insgesamt untersucht Lothar Müller. Er nimmt dabei Fontane als»Friedhofsgärtner an einer kulturellen Epochenschwelle« und das in den Wanderungen und Romanen allgegenwärtige»Friedhofswesen« in den Blick: Friedhöfe, Gruften, Gräber, Grabsteine, Inschriften etc. Während die modernen industriellen Gesellschaften Sterben und Tod tabuisierten und unsichtbar machten, blühe der alteuropäische Tod im späten 19. Jahrhundert literarisch noch einmal auf und»in der deutschen Erzählkunst(…) steht Theodor Fontane im Zentrum dieses Aufblühens«. L. Müller arbeitet an einschlägigen Textbeispielen die narrativ-konstitutive, strukturbildende Bedeutung der Gedenkkultur in Fontanes Werk heraus und kommt zu pertinenten Erkenntnissen: In den Wanderungen erweisen sich, so L. Müller, die Gräber als»topographische Fixpunkte«, in Vor dem Sturm werde der»Gräberspezialist« zum Romancier, und in den darauf folgenden Gesellschaftsromanen halte der Tod Einzug in den bürgerlichen Alltag. Fontanes literarische Evokation des Todes verzichte indes auf die
Heft
(2017) 103
Seite
133
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