Theodor und George Fontane Streiter-Buscher 149 Zychlinskis Erziehungsstil hat Einfluss auf den jungen Offiziersaspiranten. Er versteht es, in den jugendlichen Freiheitsdrang die Bereitschaft zur »Pflichterfüllung« einzupflanzen. Dabei legt er weniger Wert auf»Exerzierplatzdressur« und schätzt»die Bedeutung des militärischen Formenwesens für die Disziplin geringer« ein»als in der Armee herkömmlich«. 46 Gleichwohl ist sein Regiment bekannt für in strammer Schule erzogener Zucht und Ordnung. Dieser militärhistorisch als»Ideal« gelobten Ausbildungsund Sozialisierungsmaxime hat sich George anpassen können, wenn auch nicht von Anfang an. Das Verschlafen des obligatorischen Kirchgangs, nicht standesgemäßer Umgang mit einem Kneipenwirt, das Besprechen»dienstliche[r] Dinge« in »Kreisen«,»in welche sie nicht hingehören«, 47 und andere Grenzüberschreitungen verschaffen ihm anfangs nicht nur ernste Ermahnungen, sondern mitunter auch einen 24stündigen Karzer-Aufenthalt.»[...] wenn man sich so verschwindend klein fühlt, hat man nichts als Schändlichkeiten, um sich vor sich und andern zu behaupten« 48 , erklärt der junge Leichtfuß Leo von Poggenpuhl im Roman des verstehenden Erzählers. George, geistig unterfordert, weiß zunächst nicht, was er der als»schauderhaft« und»bodenlos« empfundenen Langeweile entgegensetzen kann 49 . »[…] der Geist darbt, und das Herz darbt. Überhaupt scheint darben mein Los«, klagt sein literarisches Ich Leo. 50 Und so sucht der junge Fähnrich auch ein Ventil in der Welt der leichten Muse. So schwärmerisch-harmlos die kleine Episode mit der schon erwähnten Varieté-Schauspielerin auch gewesen sein mag, so eindeutig hat er sich damit dem preußisch-militärischen Sittenkodex und Kastendenken widersetzt, nach denen der Offizier stets bestrebt sein soll,»nur diejenigen Kreise für seinen Umgang zu wählen, in denen gute Sitte herrschend ist«, und dass er»am wenigsten an öffentlichen Orten aus dem Auge lassen« darf,»daß er nicht blos als gebildeter Mann, sondern als Träger der Ehre und der gesteigerten Pflichten seines Standes« aufzutreten hat. 51 Schauspielerkreise galten in der Offizierswelt wegen lockerer Moral als ›Halbwelt‹. Kontakte dazu waren eines Offiziers unwürdig und daher verpönt. Der Dichter-Vater versucht Einhalt zu gebieten.»Ich habe ihm geschrieben, daß er sich zusammen nehmen soll, um nicht noch in der 12. Stunde Fiasco zu machen.« Zugleich aber ist er voller Mitgefühl:»Natürlich hat so’n armer Junge es schwer; zu den Offizieren gehört er nicht; wo soll er nun hin? er kann sich die Gesellschaft nicht malen und nimmt sie, wie er sie findet.« 52 In der direkten Begegnung Weihnachten 1869 trifft Georges Entwicklung und Selbstdarstellung die Eltern unvorbereitet. Fontane in seinem Tagebuch:»Die Weihnachtstage vergingen nicht sehr angenehm; George war auf 14 Tage zum Besuch bei uns und erfreute uns wenig durch seine Haltung. Der ›Fähnrich‹ machte sich geltender als es unsren Wünschen entsprach. Unruhig traten wir ins neue Jahr.« 53
Heft
(2017) 103
Seite
149
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