154 Fontane Blätter 103 Vermischtes »heiter wie immer« 75 und»kreuzfidèl« 76 . Wie es wirklich in ihm aussah, behielt er für sich.»Nach Hause hab ich natürlich geschrieben ich machte mir weiter nichts daraus«, vertraut er einmal Ludovica an, als seine Hoffnung auf Abkommandierung zum Bezirksadjutanten in Halle sich nicht erfüllt hatte. 77 Im gewachsenen Bewusstsein der Verantwortung für sich selbst vollzog sich in den Magdeburger Jahren aber auch ein Reifungsprozess, der zu dem Entschluss führte, seinem unerfüllten Leben eine Wendung zu geben. Im selben Jahr 1875, als Zychlinski als Generalleutnant die Führung der 15. Division in Köln übernimmt, beschließt der inzwischen Vierundzwanzigjährige, sich der Musik zu versagen und sein Klavier abzuschaffen;»die Musik« werde ihm»zu gefährlich« schreibt er.»Ich will mich jetzt ernstlich hinter die Bücher setzen um spätestens im März 77 mein Examen zur Kriegs-Akademie machen zu können.« 78 Dieses Ziel bestimmt nun sein Leben. Und in seiner Fluchtburg setzt er neue Akzente: »Ich, sonst der leidenschaftlichste Musikfreund, der ohne dieselbe nicht glaubte leben zu können, ich rühre schon seit mehreren Monaten keine Taste mehr an. Und was das sonderbarste ist, diese scheinbare Entbehrung ist mir gar keine Entbehrung, ja ich entsinne mich kaum eines Moments, in dem ich mir den alten Zustand zurückgewünscht, denke im Gegentheil den neuen noch recht lange zu erhalten. Was thut er denn nun? Arbeitet er, spielt er, kneipt er? Nichts von alledem. Dem Arbeiten kommt meine Beschäftigung allerdings am nächsten, obwohl ich es doch nicht so nennen darf. Da ich wenig Dienst habe, liege ich den ganzen Tag auf dem Sofa, und lese, lese, lese. Mit furchtbarer Deutlichkeit ist mir meine grenzenlose Unwissenheit, meine polizeiwidrige Unbelesenheit, die ich früher – befangen in meinem musikalischen Dusel – wohl ahnte, von der ich mir aber weder Rechenschaft geben konnte noch wollte, vor die Seele getreten und thue ich jetzt alles das Versäumte nachzuholen. Dies ist aber nicht so leicht, als ich gedacht[…]. Denn – leider muß ich‘s gestehn – ich habe vollkommen lesen verlernt. Es ist mir fast unmöglich meine Gedanken derartig zu concentriren, wie es die Lectüre eines nur etwas tiefer gehenden Werkes verlangt.« 79 Auf Ludovicas offenbare Vorhaltung, er sei vor allen Dingen Offizier, antwortet er ihr empört, das sei seine Meinung»ganz und gar nicht, zu allererst« wolle er»gebildeter Mensch sein«. 80 Eine Zeit der geistigen Entwicklung, ein Bewusstwerden des eigenen Wesens, der eigenen Defizite, der eigenen Neigungen setzt ein, eine Zeit, die gleichwohl einhergeht mit einem permanenten Sich-nicht-wohlfühlen-können:»Leider habe ich jetzt fortwährend eine schwarze Brille auf durch die man natürlich eben Alles schwarz sieht und so wird man des eigentlich Erfreulichen nicht recht froh und empfindet sein Gegentheil doppelt unangenehm.« 81 Im Dezember 1877 hält Fontane erstaunt fest:»George[…] steckt im Cadettenlehrer-Examen. Was man nicht alles erlebt!« 82 Und nach weiteren
Heft
(2017) 103
Seite
154
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