Heft 
(2017) 103
Seite
160
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160 Fontane Blätter 103 Vermischtes Ein Schock. Mitten im Beginn eines neuen Lebensabschnitts das jähe Ende aller Hoffnungen, für die junge Frau, für die Familie des Toten, gewiss auch für Ludovica, Georges Seelenvertraute, und besonders für den Vater, dem dieser Sohn in Sorge, Hader und Liebe stets so nahe gewesen ist. Hält er stand, findet er einen Ausweg aus dem Tunnel seiner Gefühle, denen das lebendige Objekt so plötzlich entrissen worden ist? Unwiederbringlich! Am 27. September 1887 steht er vor dem frischen Grab und stellt Fragen an den da drin, der nicht mehr antworten kann. Was er fragt oder hätte fra­gen wollen, können wir in des Vaters ein Jahr später geschriebenem Ge­dicht lesen. Es heißt Am Jahrestag, erinnert an Atmosphäre und militä­risch-pompösen Rahmen der Beisetzung und gipfelt inmitten gottergebener Verbrämung in der Frage»Das Leben, war dirs wenig, war dirs viel?« 109 In einem zweiten Gedicht Meine Gräber aus demselben Jahr nennt er den to­ten Sohn in seinem Grab»seines Todes froh«. 110 Mit 36 Jahren? fragt der Leser und sucht nach der Wahrheit dahinter. Die zeigt sich in anderen Äu­ßerungen, vor allem in Briefen aus den Tagen und Wochen unmittelbar nach Georges Tod. Fontanes Panzerung nach außen»Nur keine Sentimen­talitäten« 111 prägt in extremen Gefühlssituationen sein Verhalten. Seine Mitwelt hat er damit irritiert. Noch deutlicher erweist sich diese Haltung in der Art, mit der er sich in die schriftstellerische Arbeit stürzt, desto ent­schlossener, je mächtiger die Trauer nach ihm greift. Man lese dazu seinen unter solchen Bedingungen vollendeten Roman Unwiederbringlich. Wir kennen Gleiches aus Goethes Leben, als dessen Sohn August plötzlich starb. Und David Grossman hat in seiner Friedenspreisrede 2010 öffentlich gemacht, wie er nur durch sofortiges Weiterschreiben an seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht den Kriegstod des Sohnes Uri hat see­lisch bewältigen können. 112 Fontane plane eine»Biographie seines ältesten Sohnes George«, hat Henriette von Merckel in ihren Erinnerungen an die Familie Fontane vier Monate nach Georges Tod festgehalten. 113 Von diesem Plan, der eine Art aus Trauer gefasster Selbsttherapie gewesen sein mag, sind keine nachweisba­ren Dokumente überliefert. Und doch gibt es Spuren der Beschäftigung da­mit. Auch Fontanes Reise nach Bayreuth 1889, zwei Jahre nach Georges Tod, und seine erstaunliche Absicht, an allen drei Aufführungen der Wag­ner-Festspiele teilzunehmen, dürften dazugehört haben. Hier, am Original­schauplatz, konnte er das gemeinschaftsbildende Phänomen Wagner und die Inszenierungskunst seiner Werke erleben und den Leidenschaften sei­nes»Wagner-fanatischen« Sohnes 114 nahe sein, vielleicht auch Verständnis für ihn erfahren. Seine Abwehrhaltung gegen jede Gefühlsüberwältigung aber zerbricht endgültig unter der emotionalen Wucht der mystischen Leit­motivklänge von Liebe, Glaube, Hoffen des von seinem Sohn geliebten Par­sifal-Vorspiels. In panischer Betroffenheit verlässt er die Aufführung, gibt seine Festspielkarten zurück und ergreift buchstäblich die Flucht. 115