Heft 
(1970) 10
Seite
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rend der letzten Monate war rein geistig, aber ich weift noch sehr wohl, daft ich 1852 und 55 in der ersten Zeit meiner Anwesenheit viele Wochen lang immer das Gefühl von Schläfrigkeit, von Dummheit oder doch von Dumpfheit hatte und sehr oft erstaunt war, daft ich doch in diesem Zustand freilich immer erst, wenn ich mir einen Ruck gegeben hatte arbeiten konnte. Aber es war ein Arbeiten wie im Traum, wie in einem gewissen stiften Dusel, und ich dachte oft, ich schriebe mit einem Psychographen; die Feder kritzelte über den Bogen hin und besorgte eigentlich alles allein. England drückt auf die Nerven, die schlesische Luft spannt die Nerven an und erzeugt eine ange­nehme, heitre Stimmung. Ich schreibe Dir dies zu Deinem Trost, diese Schlaff­heit hört wieder auf.

Wie immer Dein Th. F.

Auch noch ein Wort über die Pensionsfrage. Wie ich Dir mehrmals geschrie­ben habe: es ist nicht nötig (...] Bist Du aber entschlossen, sie ernsthaft an­zufassen, so hat dies [.. .) meine vollständige Billigung, ich freue mich dar­über, und gebe Gott seinen Segen dazu [. ..) Werd ich [. ..] durch das Pen­sionswesen in meiner Arbeit behindert, so bleibt allerdings nichts andres übrig, als daft ich viel fort bin und bis zum Schluft meines Romanes 30 nur besuchsweise bei Dir einspreche. Vielleicht gewinnst Du mich dabei wieder etwas lieber und findest, daft ich doch nicht ganz so verworfen bin. Der Plan mit dem Pensionat ist mir deshalb so lieb, weil er Dir auch Gelegenheit bietet. Dich in die Verhältnisse einzuleben, die bei meinem Tode, an den man mit 50 doch denken muft, wahrscheinlich eintreten würden. Allerdings kann ich nie und nimmer ein richtiger Pensionsvater werden [.. .]

Anmerkungen

Auf der Autographenauktion der Firma J. A. Stargardt, Marburg, am 13. und 14. November 1969 wurden u. a. vier Briefe Fontanes an seine Frau vom Mai 1870 versteigert, die vor 1945/47 zum Handschriftenbestand des Theodor-Fontane-Archivs in Potsdam gehörten. Der nicht vollständig erhaltene Brief vom 16. Mai 1870 ist in den Briefen an die Familie, Band 1, S. 194 f., bereits gedruckt gewesen; der in ebendieser Sammlung, Band 1, S. 196199, erheblich gekürzte und redigierte Brief vom 28. Mai 1870 wurde 1968 in Fontanes Briefen in zwei Bänden, ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler, Berlin und Weimar 1968, Band 1, S. 358362, erstmals im vollen Wortlaut wiedergegeben. Die Briefe vom 6. und 23. Mai 1870 (der erste in den Briefen an die Familie, Band 1, S. 187190, stark verstümmelt abgedruckt, der zweite bisher unveröffent­licht) werden hier nach den Abschriften Emilie Fontanes publiziert, die sich im Fontane-Archiv befinden. Den zweiten Nachtrag zum Brief vom 23. Mai 1870 (.Auch noch ein Wort . . .') hat Emilie Fontane entweder nicht kopiert, oder die Abschrift ist verlorengegangen. Der Text dieses Abschnittes folgt dem (gekürzten) Abdruck im Stargardt-Katalog Nr. 591, S. 25.

1 Emilie Fontane war im April 1870 nach London gereist, um die Tochter Martha (genannt Mete) bei der Familie Merington unterzubringen.

2 Fontane schätzte die Reiseberichte des liberalen Schriftstellers Hermann von Pückler-Muskau (17851871) sehr, besonders die in den .Briefen eines Verstorbenen' enthaltenen Aufzeichnun­gen aus England.

3 Mit der Familie des Berliner Juristen Karl Zöllner (18211897), der 1876 Fontanes Nach­folger als Sekretär der Akademie der Künste wurde, war der Dichter lange Jahre befreundet. Zöllners Rütli-Name war .Chevalier, die .Chevaliäre" ist seine Frau Emilie (gest. 1912).

4 Karl Bormann (18021882), Provinzialschulrat in Berlin.

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