Band 2, Heft 5
FONTANE
BLÄTTER
1971
Karl Liebknecht (geboren 13. 8. 1871, ermordet 15. 1. 1919)
Urteil über Theodor Fontane
„Wichtig ist mir die jetzt erst gewonnene nähere Bekanntschaft mit Willibald Alexis und Fontane, den beiden preußischsten, ja brandenbur- gischsten Dichtern des 19. Jahrhunderts, beide freilich in edlerem Sinn: beide keine Brandenburger, keine Preußen, keine Deutschen, sondern — Franzosen der ,Kolonie“, südfranzösischen Refugies-Familien entstammend, eine bittere Pille für die Nationalidioten und Rassenfanatiker, die Fontane in seinem Roman ,Vor dem Sturm“ auch unübertrefflich zeichnet: nicht nur die Fürstengeschlechter sind ja aus dem Blut aller europäischen und einiger asiatischer Völker zusammengemischt, die Bevölkerung der Mark Brandenburg, des .Herzstücks von Preußen“, wie ganz Ost-Elbiens, Sachsens ist fast rein slavisch (wendisch), und zwar von unten bis oben. Zum höchsten Adel. Gewiß, die stärkste Prädisposition zum künftigen deutsch-slavisch-magyarisch-türkisch-japanischen Bund gegen den germanischen und romanischen Westen. Fontane ist etwas breit, und der Kleinmalerei sehr zugetan. Aber aller Enge abhold, eine .breite“ Natur wie wenige; voller lebendiger Erfahrung auf und unter der Oberfläche vieler Gesellschaftsschichten und nicht nur Deutschlands, sondern auch Frankreichs, wo er 70/71 kriegsgefangen war, und Englands, wo er lange lebte, und voller Natürlichkeit, Ehrlichkeit und oft Anmut und Feinheit. Seine biographischen .Kinderjahre“ empfehle ich Dir sehr — auch Helm! mag sich daran machen. Du wirst aus diesen Sachen zugleich lernen und das eigenartige Leben in der .Kolonie“ wird Dich interessieren. Ich wäre froh zu hören, daß Du meinen gelegentlichen literarischen Anregungen folgst.“
(Aus: Karl Liebknecht: „Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus.'“ Berlin-Wilmersdorf: Verlag der Wochenschrift „Die Aktion“. 1919, S. 87/88.)
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