Seidorf am Fuß des Riesengebirges zur Erholung. Mein Onkel, dessen gutgehende Apotheke ihm trotz reichen Kindersegens ein sehr standesgemäßes Auftreten erlaubte, besaß ein starkes Selbstgefühl und Stolz auf das durch eigene Kraft Erreichte ohne dabei protzig zu sein. So machte er auf die Sommerfrischler berechtigterweise einen wohlhabenden Eindruck, der aber auch das Budget seiner Schwägerin goldiger erscheinen ließ, als dies tatsächlich der Falle war. In die etwas eintönigen Seidorfer Wochen kam eines Tages Abwechslung: ein paar auf einer Fußwanderung nach Adersbach begriffenen Herren kamen bei einer Rast irgendwie mit der Familie Sommerfeldt ins Gespräch über das Wanderziel, da diese auch demnächst dorhin zu pilgern gedachten. Man gefiel einander, angesichts meiner Tante war das kein Wunder, aber auch nicht gegenüber Heft-n Buchhalter Weber aus Striegau, der seiner Erscheinung nach wie ein Kavallerie-Offizier, zumindest aber wie die Leuchte unter den Reserve-Offizieren seines Bezirks wirkte. Daß er keiner war, auch nicht mal ein selbständiger Kaufmann, tat dem günstigen Eindruck dann doch keinen Abtrag. Beim Aufbruch hatte aber auch Herr Weber in jeder Beziehung Gefallen an der Schwägerin des wohlhabenden Berliner Herrn gefunden und machte ihn geneigt für ernstere Absichten. Der übernächste Tag führte dann auch die Sommer- feldterei zu dem berühmten Aussichtspunkt der böhmischen Wälder. Über den Eindruck der gewaltigen Felsklüfte vermeldet die Familienchronik nichts, wohl aber von der gar zu einfachen Verpflegung, die der Adersbacher Rübezahl seinen Gästen vorsetzte, weil die letzten Hähnchen zwei Tage zuvor Herrn Weber und Genossen zum Opfer gefallen waren. Dieser betrübliche Tatbestand wurde von meiner Tante in humorvoller Weise auf einer Postkarte nach Striegau gemeldet, was dann zu weiterem Schriftverkehr führte. In späteren Jahren hat es dann öfters geheißen: ,Ach hätt ich doch diese unglückselige Karte nicht geschrieben!‘, aber es war geschehen und kam nun wie es kommen sollte.
Vor der Verlobung hatte sich der weibliche Teil ehrlich zu einem Vermögen von nur 24 000 Mark bekannt. Diese Summe entsprach sicherlich nicht den Seidorfer Erwartungen des Herrn Weber, doch war er damit zufrieden, zumal er selber wahrscheinlich gar nichts besaß. Unter Aufgabe seines Buchhalterpostens beschloß er mit dem Vermögen seiner künftigen Frau ein Zigarrengeschäft in Schweidnitz zu gründen, es war aber eine Gründung, die so vielen in den 70er Jahren entsprach und schließlich mit dem Verlust des Kapitals endete. Zum Glück fand Weber vermöge seines guten Aussehens eine Stellung als Inspektor bei einer Feuerversicherungs-Gesellschaft und wurde sich dann auch — dies muß anerkannt werden — seiner Pflichten als Familienoberhaupt bewußt. Bei seinem Tod 1898 hinterließ er ein Vermögen von fast 40 000 Mark, so daß meine Tante als Erbin der Hälfte wenigstens annähernd ihr in die Ehe eingebrachtes Geld zurückerhielt. Von der Versicherungs- Gesellschaft bekam sie zudem eine kleine Rente. Die andere Hälfte entfiel auf die schon erwähnte Stieftocher Gertrud aus Webers erster Ehe, die meiner Tante von Anfang an in Bewunderung und herzlicher
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