Heft 
(1975) 21
Seite
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Gotthard Erler (Berlin)

FontanesWanderungen heute'*

Nachdem Fontane im August 1856 einen Plan mit dem TitelDie Marken, ihre Männer und ihfe Geschichte entworfen hatte, notierte er in seinem Londoner Tagebuch:Wenn ich dazu komme, das Buch zu schreiben, so hab ich nicht umsonst gelebt und kann meine Gebeine ruhig schlafen legen. Ein Vierteljahrhundert später war das ehrgeizige Projekt in denWanderungen durch die Mark Brandenburg tatsächlich verwirklicht, aber über der Arbeit daran hatte sich der Autor höhere Ziele gesteckt. Er hatte im Roman sein eigentliches literarisches Medium gefunden, und der von den Zeitgenossen einseitig strapazierte Ruhm - jenerWanderungen begann ihn zuweilen zu verdrießen. Als ein Berliner Geschichtsverein im Sommer 1882 eine Exkursion ins Ruppin- sche unternahm, umSchloß Wuthenow zu besichtigen, das (wie es in der Einladung hieß) neuerdings durch Theodor Fontane eine so ein­gehende Schilderung erfahren habe, da amüsierte sich der Verfasser des soeben vorabgedrucktenSchach von Wuthenow noch denn dieses Schloß existierte überhaupt nicht. Als aber dann auch die Rezensenten die Novelle durchweg unter lokalgeschichtlichen Aspekten beurteilten, empörte er sich über die Unfähigkeit der Kritik, entscheidende Ent­wicklungen eines Schriftstellers wahrzunehmen oder gar zu begreifen. Mein Metier' besteht darin, bis in alle Ewigkeit hinein ,märkische Wanderungen zu schreiben; alles andre wird nur gnädig mit in den Kauf genommen, bemerkte er verärgert in einem Brief vom 19. Januar 1883 an den Leipziger Verleger desSchach.

Fontane registrierte damit schon früh eine charakteristische Tendenz seiner an Mißverständnissen reichen Wirkungsgeschichte: der Erzähler, der ein anderes Publikum ansprach als derWanderer, sollte in bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit noch lange hinter dem Reise­berichterstatter zurückstehen, dessen Land-und-Leute-Schilderungen man als vermeintliche Liebeserklärung an die Mark Brandenburg, ja an Preußen gern hinnahm und dessen Romane man nur als Fortführung derWanderungen mit anderen Mitteln deutete. So etablierte sich ein gängiges Fontane-Bild, das fast ausschließlich von denWanderungen geprägt war und den Autor auf den Status des patriotischen Heimat­dichters festlegte, aus dessen Feder auch ein paar Romane stammten. Obwohl man dieser Legende auch heute noch begegnen kann, sind nicht zuletzt durch marxistische Forschung und Edition die Akzente in den letzten Jahrzehnten im Sinne Fontanes korrekter gesetzt worden. Der späte Erzähler gilt als dereigentliche Fontane, und jene Roman­folge vonSchach von Wuthenow bis zumStechlin wird nicht mehr mit in den Kauf genommen, sondern unentwegt gelesen und geliebt und neu verstanden; und zwar als jenesgültige, bleibende Dokument

* Gekürzter Vorabdruck der Einleitung zu einer vollständigen Ausgabe derWan­derungen, die ab 1976 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erscheint.

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