Heft 
(1975) 21
Seite
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einer Gesellschaft, eines Zeitalters, das (nach den Worten Heinrich Manns zum 50. Todestag Fontanes)soziale Kenntnis gestalten und vermitteln, Leben und Gegenwart bewahren kann noch in einer sehr veränderten Zukunft, wo, sagen wir, das Berlin von einst nicht mehr besteht.

Uber der legitimen Popularität der Romane drohen nun dieWanderun­gen in ein unverdientes Schattendasein zurückzutreten, da sie aus den unterschiedlichsten Gründen in der DDR bisher nur in Auswahl­ausgaben erschienen sind und überdies in der Forschung meist nur noch als Vorstufe der Epik, als Materialreservoir und Fingerübung des Romanciers gelten. Zudem scheinen sie manchenorts als heimatlitera­rischer Geheimtip bewertet, anderenteils jedoch alsallzu preußisch verdächtigt zu werden.

Zweifellos ist die unverwechselbare Position Theodor Fontanes in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts im erzählerischen OEuvre begründet, für das der Autor allerdings gerade auf seinen Streifzügen durch die Mark Stoffe und Motive, Personnage und Szenerie erkundete und für das er bei der Schilderung ebendieser märkischen Bilder auch das schriftstellerische Handwerk erprobte und perfektionierte. Die faszinie­rende Exaktheit im lokalen wie personellen Detail, im landschaftlichen Kolorit und in der realistischen Atmosphäre, in all jenenGenre­szenen ..., in denen abwechselnd Kutscher und Kossäten und dann wieder Krüger und Küster das große Wort führen das alles verdankt der Erzähler natürlich dem Wanderer; doch daraus ergibt sich noch nicht eine lediglichdienende, alleinvorbereitende Funktion der Wanderungen.

Die landläufige Vorstellung, Fontane habe zu einem bestimmten Zeit­punkt aufgehört,Wanderungen zu schreiben, und begonnen, Romane zu veröffentlichen, ist biographisch-werkgeschichtlich nicht haltbar. Fontane reift zum Erzähler in den beiden Jahrzehnten, in denen die Wanderungen entstehen; die Arbeit am RomanerstlingVor dem Sturm (1878), der ja auch formal noch die größte Verwandtschaft mit denWanderungen aufweist, bereitet sich vor mit derGrafschaft Ruppin, läuft in aller Stille synchron mitOderland undHavelland und ist teilweise schon mitSpreeland verzahnt. Andererseits sieht dieRomanphase der achtziger und neunziger Jahre Fontane ständig wenn auch in unterschiedlicher Intensität mit märkischen Projekten beschäftigt. WährendIrrungen, Wirrungen undCecile,Stine und Frau Jenny Treibei entstehen undEffi Briest konzipiert wird, trägt er in umfangreichen Essays wiederumAltes und Neues aus Mark Brandenburg zusammen und publiziert es Ende 1888 unter dem Titel Fünf Schlösser; zugleich schreibt er für die geplante fünfte Auflage derGrafschaft Ruppin neue umfangreiche Kapitel nieder. Schon 1883 disponiert der Autor den Stoff für einvierbändiges Parallelwerk zu denWanderungen, dasGeschichte und Geschichten aus Mark Bran­denburg heißen sollte, aber über zahlreiche Vorarbeiten hinaus nicht gedeiht. Das Jahr 1889 Fontane wird siebzig und engagiert sich als

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