Buchbesprechungen
Theodor Fontane: „Literarische Essays und Studien.“ X. 1.2. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1963 und 1974. (Fontane: Sämtliche Werke. Bd 21,1.2.)
Auf der Grundlage vornehmlich von Ludwig Rohners materialreichem Bande „Der deutsche Essay“ hat Annemarie Auer in der Essay-Reihe des Mitteldeutschen Verlages unter dem Titel „Die kritischen Wälder“ unlängst einen eben so fesselnden wie anregenden „Essay“ veröffentlicht. Sein Wesen sieht sie hauptsächlich in seinem differenziert-kritischen Gehalt, in seiner episierend-lyrisierenden Bauform und in seiner durch die unmittelbare Materialnähe geprägten sinnlichen Abstraktionsweise. Aufgrund seiner starken antidogmatischen schöpferischen Bekenntnishaftig- keit, seines ganzheitlichen Charakters bei gleichzeitiger Offenheit im Geistigen, Problemhaften wie in der spontan-episierenden, assoziativen Form weist sie ihm große Möglichkeiten bei der Freisetzung bzw. weiteren Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit zu. So ist wohl das annähernd gleichzeitige Auftreten der betont subjektiven Prosa Christa Wolfs, von Heinz Kamnitzers realistisch-essayistischer Arnold-Zweig-Biographie „Der Tod des Dichters“ und von Annemarie Auers energischem Plädoyer für den Essay kein Zufall.
In dem gleichermaßen historisch-gerafft wie theoretisch angelegten Beitrag findet natürlich auch der Essayist Fontane seinen Platz, direkt wie indirekt. Mittelbar denkt der Fontane-Kenner beim Lesen der neuen „Kritischen Wälder“ z. B. überall dort an Fontane als Praktiker und auch Theoretiker des Essays, wo vom Essay als Persönlichkeitsausdruck, ja als von der .persönlichen Erfahrung und dem individuellen Denkerleben unmittelbar geprägter existenzieller Schreibweise die Rede ist. Weiter ist Fontane unerwähnt, aber offensichtlich mitgedacht gegenwärtig, wenn die völlige Aufzehrung des unmittelbar gegebenen Materials in der anschaulichen Verallgemeinerung oder die hochsensible genaue Schmiegsamkeit des wie gesprochen wirkenden Wortes an die behandelte Sache eindringlich beschrieben werden. Direkt erscheint Fontane auf Seite 66 zusammen mit Karl Hillebrand und Hermann Grimm als Vertreter einer vorimperialistischen demokratischen Essayistik, innerhalb deren Grimm allerdings bereits zu der nietzeanisch-elitär geprägten wirklichkeitsflüchtigen Essayistik des George-Kreises hinüberleitet, während Hillebrand, der ehemalige Sekretär Heinrich Heines, Probleme und Prozesse der europäischen Kultur und Bildung in einer thematischen Vielfalt einfängt, die für die deutsche bürgerliche Essayistik leider nicht repräsentativ ist, auch nicht für die Fontanes, die jetzt in den beiden Nymphenburger Bänden XXI, 1 und XXI, 2 geschlossen vorliegt.
1960 brachte Hans-Heinrich Reuter im Aufbau-Verlag den Band „Fontanes Schriften zur Literatur“ heraus, der ausschließlich bereits gedruckte Texte enthielt. 1969 ließ er im gleichen Verlag die von den Fontane-Kennern mit Recht als sensationell empfundenen „Aufzeichnungen zur Literatur“ folgen, mit fünfundzwanzig erstmals mitgeteilten Texten aus dem Pots-
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