Heft 
(1976) 24
Seite
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Noch bedauerlicher ist es freilich, daß sich Eberhardt diese entstellten, vorgeblich von Fontane vertretenen Auffassungen kritiklos zueigen macht und, ungeachtet aller Lesefrüchte, keinen ernsthaften Versuch unter­nimmt, darüber hinauszugelangen.

Angesichts dessen wundert man sich nicht, wenn das Ergebnis der Unter­suchung mager ausfällt. Es muß jedoch auch deswegen unbefriedigend bleiben, weil Eberhardt in der Wahl des Exempels nicht glücklich war. Denn der Verfasser will die Thackeray-Nachfolge Fontanes an dem frühen RomanVor dem Sturm aufweisen. Gewiß, lange bevor er den größeren Teil vonVor dem Sturm schrieb, hatte Fontane Thackerays glänzenden RomanVanity Fair (1848) gelesen. Dennoch läßt sich eine wesentliche Einwirkung Thackerays aufVor dem Sturm kaum fest­stellen. Sie war auch nicht gut möglich. Denn einesteils war die Gesell­schaftskritik Thackerays inVor dem Sturm nicht anwendbar, da die in diesem Roman geschilderten gesellschaftlichen Verhältnisse noch längst nicht den Reifegrad der Gesellschaft erreicht hatten, die Thackeray kritisiert (was übrigens Eberhardt bewußt ist; S. 5969). Andrerseits hatte Fontane selbst, als er 1878Vor dem Sturm vollendete, noch nicht jene Höhe der Gesellschaftskritik erklommen, die in seinen späteren und ' späten Romanen und Erzählungen wirksam wird und die, trotz abwei­chender Nuancen, mit der Thackerays verglichen werden kann.

Es war daher ein Fehlgriff, sich aufVor dem Sturm zu konzentrieren. Wahrscheinlich hätte ein Vergleich zwischen der Kritik Thackerays an der englischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Fontanes an der deutschen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bessere Ergebnisse erbracht. Denn, wie Eberhardt bei­läufig bemerkt,Fontane beginnt in den 80er und 90er Jahren einen Standpunkt gegenüber der Gesellschaft zu beziehen, der dem Thackerays ähnelt. Fontane konnte, ja mußte als äufmerksamer und hellsichtiger Geist zu durchaus vergleichbaren Anschauungen kommen, weil das öffent­liche Leben in Deutschland Formen angenommen hatte, die denen Eng­lands in den 40er Jahren in vielen Teilen glichen (S. 250).

Da nun der Verfasser diesen Vergleich nicht angestellt hat, muß er sich einesteils mit dem Nachweis zeitbedingter Übereinstimmungen in den Auffassungen Thackerays und Fontanes sowie dem Hinweis auf Parallelen in der literarischen Aussage begnügen. Andrenteils verliert Eberhardt den englischen Romancier über etliche Abschnitte hinweg ganz oder fast ganz aus dem Auge (S. 106173), um sich vielmehr mit den historischen Voraussetzungen des Befreiungskrieges oder nicht immer erfolgreich mit bekannten Fakten der Realismus-Theorie Fontanes zu beschäftigen.

Dr. Joachim Krueger, Berlin

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