Noch bedauerlicher ist es freilich, daß sich Eberhardt diese entstellten, vorgeblich von Fontane vertretenen Auffassungen kritiklos zueigen macht und, ungeachtet aller Lesefrüchte, keinen ernsthaften Versuch unternimmt, darüber hinauszugelangen.
Angesichts dessen wundert man sich nicht, wenn das Ergebnis der Untersuchung mager ausfällt. Es muß jedoch auch deswegen unbefriedigend bleiben, weil Eberhardt in der Wahl des Exempels nicht glücklich war. Denn der Verfasser will die Thackeray-Nachfolge Fontanes an dem frühen Roman „Vor dem Sturm“ aufweisen. Gewiß, lange bevor er den größeren Teil von „Vor dem Sturm“ schrieb, hatte Fontane Thackerays glänzenden Roman „Vanity Fair“ (1848) gelesen. Dennoch läßt sich eine wesentliche Einwirkung Thackerays auf „Vor dem Sturm“ kaum feststellen. Sie war auch nicht gut möglich. Denn einesteils war die Gesellschaftskritik Thackerays in „Vor dem Sturm“ nicht anwendbar, da die in diesem Roman geschilderten gesellschaftlichen Verhältnisse noch längst nicht den Reifegrad der Gesellschaft erreicht hatten, die Thackeray kritisiert (was übrigens Eberhardt bewußt ist; S. 59—69). Andrerseits hatte Fontane selbst, als er 1878 „Vor dem Sturm“ vollendete, noch nicht jene Höhe der Gesellschaftskritik erklommen, die in seinen späteren und ' späten Romanen und Erzählungen wirksam wird und die, trotz abweichender Nuancen, mit der Thackerays verglichen werden kann.
Es war daher ein Fehlgriff, sich auf „Vor dem Sturm“ zu konzentrieren. Wahrscheinlich hätte ein Vergleich zwischen der Kritik Thackerays an der englischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Fontanes an der deutschen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bessere Ergebnisse erbracht. Denn, wie Eberhardt beiläufig bemerkt, „Fontane beginnt in den 80er und 90er Jahren einen Standpunkt gegenüber der Gesellschaft zu beziehen, der dem Thackerays ähnelt. Fontane konnte, ja mußte als äufmerksamer und hellsichtiger Geist zu durchaus vergleichbaren Anschauungen kommen, weil das öffentliche Leben in Deutschland Formen angenommen hatte, die denen Englands in den 40er Jahren in vielen Teilen glichen“ (S. 250).
Da nun der Verfasser diesen Vergleich nicht angestellt hat, muß er sich einesteils mit dem Nachweis zeitbedingter Übereinstimmungen in den Auffassungen Thackerays und Fontanes sowie dem Hinweis auf Parallelen in der literarischen Aussage begnügen. Andrenteils verliert Eberhardt den englischen Romancier über etliche Abschnitte hinweg ganz oder fast ganz aus dem Auge (S. 106—173), um sich vielmehr mit den historischen Voraussetzungen des Befreiungskrieges oder — nicht immer erfolgreich — mit bekannten Fakten der Realismus-Theorie Fontanes zu beschäftigen.
— Dr. Joachim Krueger, Berlin —
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