Heft 
(1976) 24
Seite
611
Einzelbild herunterladen

wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten der Zeit in Frage stellen wollen (S. 100). Auf Thackeray, der 1863 starb und den Aufschwung der Arbeiter­bewegung nicht mehr erlebte, wird das zutreffen, indes nicht auf Fontane.

Natürlich kann Eberhardt bei dieser Argumentationsweise nur zu dem Schluß gelangen, daß Fontane im Grunde ein Mann derReformen war, der er angeblich nur einigeAuswüchse des Kapitalismus besei­tigen wollte. Eberhardt zufolge konnte Fontaneletzten Endes die Revolution als Mittel der politischen Auseinandersetzung nicht akzep­tieren (S. 255).

Gegenüber solchen Behauptungen muß an das erinnert werden, was Fontane am 6. Mai 1895 an Georg Friedlaender schrieb:Mein Haß gegen alles, was die neue Zeit aufhält, ist in einem beständigen Wachsen, und die Möglichkeit, ja, die Wahrscheinlichkeit, daß dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht voraufgehen muß, kann mich nicht abhalten, diesen Sieg des Neuen zu wünschen.

Eberhardt mag sich auf Möser, Rodbertus und Lassalle berufen oder gar Fontane als Anhänger desorganischen Staatsmodells hinstellen (S. 255 f.), Fontanes briefliches Bekenntnis gegenüber Friedlaender und manche andere Stelle in seinen Briefen beweisen das Gegenteil. Es kann keine Rede davon sein, daß Fontanekeine andere Form der gesell­schaftlichen Weiterentwicklung anerkennen wollte alsdie durch Reform(S. 256). Noch kann man behaupten, daß Fontane wie Thackeray für dengoldenen Mittelweg gesellschaftlicher Entwicklung plädierte (S. 256). Es ist zwar unbestreitbar, daß Fontane mit einer solchengoldenen Mitte geliebäugelt hat. Wie aber der unlängst (Fon­tane-Blätter. Heft 23. 1976, S. 488 f.) veröffentlichte EntwurfDie Bekehr­ten, für den Fontane auch den TitelGoldene Mitte oder Die Bekehr­ten erwogen hat, zeigt, mußte der Dichter einsehen, daß ein Mittelweg nicht möglich ist, wenn er diese Einsicht auch in Form einer Anekdote aussprach.

Was uns also Eberhardt als die Auffassung Fontanes von der Geschichte Preußen'Deutschlands im 19. Jahrhundert präsentiert, ist eine arge Simpliflzierung, die auf eine völlige Verzerrung hinauslaufen muß. Denn es entsteht der Eindruck, als habe Fontanes Entwicklung nur darin bestanden, daß er, anknüpfend an den Befreiungskrieg, zunächst irgend­einein ihrem Kern demokratische Volksstaatsidee (S. 171) verfochten habe, dann aber, als er erkennen mußte, daß sie sich nicht durchsetzte undReformen nicht mehr möglich waren, in Resignation verfallen sei (S. 253 ff.). Es wird Fontane unterstellt, daß die Entwicklung seiner politischen Auffassungen in einer Sackgasse endete, weil er angeblich nur dem Leitbild derVolksstaatsidee gefolgt ist. Damit wird das komplizierte und widerspruchsvolle Neben- und Gegeneinander progres­siver und regressiver Ideen im politischen Denken Fontanes und in seiner Geschichtsauffassung, dessen letztes Resultat das klare Bekenntnis zum Fortschritt und zum Neuen bildete, negiert und durch eine Simplizität ersetzt.