Heft 
(1976) 24
Seite
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Eberhardt, Wolfgang: Fontane und Thackeray. Heidelberg: C. Winter 1975. 316 S. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 3. Folge. Bd. 19.)

Die vorliegende Arbeit untersucht die Einwirkung William Makepeace Thackerays auf Fontane am Beispiel vonVor dem Sturm und möchte, wie es im Vorwort (S. 8) heißt,einen Beitrag zum besseren Verständnis dieses Romans liefern.

Um klar zu machen, was man von diesem Buch erwarten darf, muß zunächst etwas über die Methode gesagt werden, nach der der Verfasser verfährt, und über die Geschichtsauffassung, die er vertritt. Seine Methode ist ausgesprochen idealistisch. In seiner Geschichtsauffassung aber gibt er sich den Anschein, als ob er sich weitgehend an Fontane anschlösse. In Wirklichkeit freilich unterschiebt er Fontane ein Ge­schichtsbild, mit dem er sich dann identifiziert.

Beginnen wir mit einem grundlegenden Problem. Eberhardt behauptet von Fontane:Nach seiner Überzeugung ist jede Epoche von Ideen bestimmt, die das Selbstverständnis der Menschen dieser Zeit formen; deshalb greift er [inVor dem Sturm. J. K.] auf die Ereignisse von 1812/13 zurück, weil dort, wie er an Hertz schreibt, ,das große Fühlen geboren wurde (S. 145). Es ging aber Fontane, wie Eberhardt nach- weisen möchte, nicht bloß um den Befreiungskrieg als solchen, vielmehr hatte Fontanegehofft, daß der neue deutsche Staat an altpreußische Traditionen anknüpfen und diese weiterentwickeln würde (S. 13 f.). Vor dem Sturm, erst nach der Reichsgründung von 1871 vollendet, sollte also auf die ideellen Grundlagen hinweisen, auf denen das deutsche Reich aufbauen mußte. Denn Fontanesan Epochen orientiertes Ge­schichtsdenken veranlaßte ihn, nach Eberhardt,in den Freiheitskriegen das Einsetzen der jüngsten Epoche der preußischen Geschichte zu sehen (S. 147). Als sich der Dichter aber, so fährt Eberhardt in seiner Argumen­tation fort,in dieser Hoffnung getäuscht sah, gab Fontane sein positives Verhältnis zum Kaiserreich auf und wurde zu einem seiner schärfsten Kritiker (S. 14).

Die Frage, warum sich Fontane enttäuscht sah, beantwortet Eberhardt, indem er Fontane und Fichte bemüht, mit der Feststellung, daß Preußen/ Deutschland inMaterialismus verfallen sei, nämlich in einen ethischen Materialismus, der materielle Güter höher bewertet als ideelle wie etwa dieFreiheit (S. 75, 141, 249 f., 254). Als Kern diesesMaterialismus betrachtete Fontane denMammonismus (S. 98 ff.). Thackerays Kritik aber an dem ethischen Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft Englands war es, von der Fontane einen Anstoß dazu erhielt, gegen den Materialismus und Mammonismus Stellung zu nehmen (S. 9198). Nach Eberhardt hat sich Fontane damit nicht etwa grundsätzlich gegen den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft gewandt, sondern Fontanes Kritik richtete sichallein gegen die Auswüchse einer kapita­listischen Gesellschaftsordnung und nicht gegen die ökonomischen Vor­bedingungen für die Entwicklung moderner Industriegesellschaften (S. 99). Weder Thackeray noch Fontane, meint Eberhardt, habendie

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