Nachdrücklichkeit erkennen läßt, mit denen die bewegenden Fragen des Jahrhunderts in Fontanes Romane eingeschrieben sind.
Allerdings werden diese Fragen vornehmlich als „Denkformen“ verstanden, auf deren Wandlungen der „Strukturwahl des gesellschaftlichen Lebens“ letztlich zurückzuführen sei. (S. 11) Das rächt sich, indem die Denkinhalte den Denkformen gegenüber nicht selten ins Hintertreffen geraten und eine Neigung zu großräumiger Zusammenschau die Oberhand gewinnt, die über konkrete Differenzierungen und chronologische Verläufe hinweggeht. Die Übergänge beispielsweise von den Wanderungen zu den chronikalischen Novellen auf der einen, zu Vor dem Sturm und Schach von Wuthenow auf der anderen Seite erscheinen so in erster Linie als „Paradigmawechsel“, als Wendung von einem global verstandenen Historismus zu einem entwicklungsgeschichtlichen Denken, statt als Verarbeitung zeitgeschichtlicher Erfahrungen. Damit werden auch die Kollosionen entschärft, in die Fontane mit seinen Romanen eingreift. Dem entspricht das „Jederzeitliche“, das Konflikten nachgesagt wird, wie sie in Irrungen Wirrungen aufbrechen (S. 260 f), ihre Auflösung aus der sozialgeschichtlichen Bestimmtheit in einen „Antagonismus von Gesellschaft und Menschlichkeit“ schlechthin. (S. 482) Hier — und in einigen überflüssigen Seitenhieben — spricht sich eine tiefe Skepsis gesellschaftsverändemder Praxis gegenüber aus, eine Skepsis, für die Fontane je länger je weniger in Anspruch zu nehmen ist.
Das Gegengewicht erwächst solchen Auffassungen aus einem Literaturbegriff, der das gesellschaftliche Phänomen in seiner Breite umfaßt und sich nicht an abstrakte ästhetische Voraussetzungen bindet. Darauf gestützt, bricht Müller-Seidel mit der Unterscheidung von Haupt- und Nebenwerken Fontanes, die seit Wandrey landläufig ist: „Es gibt aber Kunstwerke, die keine ,Meisterwerke' sind und dennoch an Erkenntnis mehr einbringen, als im allgemeinen erwartet wird.“ (S. 169) Das ist die Überzeugung des Historikers, die der Interpretation etwa von L’Adultera und Cecile zugute kommt. Hingegen über die Aufwertung von Vor dem Sturm zu einem der „besten historischen Romane, die es in der deutschen Literatur gibt“ (S. 132), und von Mathilde Möhring, „diese(r) meisterhaft heruntererzählte(n) Geschichte“ (S. 423), ist sicher das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Müller-Seidels anregendes, durch Methode, Begrilfsbildung und Einzelurteil vielfach auch zum Widerspruch herausforderndes Buch mündet in dem Befund: „Fontane führt mit seiner Romankunst an die Schwelle der Moderne heran und verläßt doch nicht den Traditionsraum, in dem er Schriftsteller geworden war.“ (S. 470) Erhöhtes Kunstbewußtsein und erzählerische Ambivalenz vor allem, die ihn mit dem späten Raabe verbinden, werden dieser Ansicht zugrundegelegt, der man beipflichten wird, auch wenn man sich der Kennzeichnung als „Spätrealismus“, die einem Epochenstil-Begriff von Realismus verpflichtet ist, nicht anschließt.
— Dr. Peter Wrack, Berlin —
609