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Man darf den Entschluß begrüßen, wenn man auch das Ausbleiben einer Biographie bedauern mag, die um die Werke und — wie die lebens- g'eschichtlichen Entwicklungslinien vermuten lassen, von denen Müller- Seidel ausgeht — um die Widersprüchlichkeit des Fontaneschen Werdegangs bemüht gewesen wäre. Hier kehren Gedanken wieder, die zum Verständnis dieses Werdegangs unentbehrlich sind. Dazu gehören die nüchterne Beurteilung des Vormärz-Literaten Fontane und des Konservatismus, in den er als Kreuzzeitungs-Redakteur verfällt, ebenso wie die Schlüsselstellung der nationalen Frage in seinem politischen Denken, das allerdings übermäßig eng an die Person Bismarcks gekoppelt wird. „Wie man Fonatnes Romane gruppiert, ist im Grunde schon ein Vorgriff auf ihr Verständnis.“ (S. 319) Müller-Seidel ordnet sie jeweils einem Problemkreis zu: „Im Banne des Historismus“ verharren Grete Minde und Ellernklipp, während sich zu „Zeitwende und Zeitkritik“ Vor dem Sturm und Schach von Wuthenoiv hinwenden. „Frauenporträts“ sind L'Adultera und Cecile, um „Verbrechen und Strafe“ geht es in Unterm Birnbaum und Quitt. In „Einfache Lebenskreise“ führen Irrungen Wirrungen und Stine, zu „Besitz und Bildung“ Frau Jenny Treibei und Mathilde Möhring. „Die Säkularisierung der Ehe“ schließlich manifestiert sich in Effi Briest und Unwiederbringlich, und die „Lebensformen des Adels“ werden in Graf Petöfy, Poggenpuhls und im Stechlin aufgesucht. Den Werkinterpretationen ist jedesmal eine Skizze der Problemgeschichte vorausgeschickt.
Zum Glück verbirgt sich hinter dieser Anlage keine dürr dogmatische Rückführung der vielschichtigen epischen Gebilde auf den herausgehobenen Bezugspunkt, wenn es auch ohne Vereinseitigungen nicht abgeht. Auf den Beziehungsreichtum, der den Erzähler Fontane auszeichnet, auf die Delikatesse der Gestaltungsweisen und die sprachliche Subtilität wird gehöriger Wert gelegt; der Stilwandel, den seine Epik erbringt, dient am Ende als das Maß seiner Bedeutung. Dessen unbeschadet bildet das Soziale der Fontaneschen Romankunst — dessen Begriffsumfang anhand der Semantik des Worts innerhalb der herrschenden Kultur des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt wird — die Dominante der Untersuchung, die von der Überzeugung geleitet wird, daß Fontane auf seine Weise die Tradition des europäischen Gesellschaftsromans fortsetze. (S. 10) „Große soziale Roman-Dichtung“ also in dem Sinne, wie Thomas Mann sie bei Dickens, Thackeray, Tolstoi, Dostojewski, Balzac, Zola, Proust festgestellt und „geradezu die Monumentalkunst des neunzehnten Jahrhunderts“ genannt hatte.
Nun ist mittlerweile ausgemacht, daß unter den deutschen Erzählern der zweiten Jahrhunderthälfte Fontane dieser Phalanx am nächsten kommt und an internationaler Wertschätzung erstaunlich gewonnen hat. Schwankend geblieben ist indessen die Ortsbestimmung seines Werks, zu der Müller-Seidel bemerkenswerte Daten beisteuert, obwohl er sich wenig in komparatistische Bahnen begibt. Sein problemgeschichtliches Vorgehen bewährt sich namentlich darin, daß es das Ausmaß und die
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