Lesser wurde am 12. August 1850 in Westpreußen geboren-' und starb offenbar erst nach 1938, entweder aus Altersgründen oder als Opfer der Judenverfolgungen. Als Berliner Theaterreferent für das „Neue Wiener Tagblatt“, eine Stellung, die er jahrelang (ungefähr von den frühen 1880er Jahren bis nach dem ersten Weltkrieg) innehatte, gab Lesser „den Wienern in seinen sorgfältigen Berichten ein getreues Bild des deutschen Kulturlebens“ sowie der „künstlerischen Bestrebungen der Jungen“.-* Und doch ist Lesser in keinem bekannten journalistischen oder literarischen Verzeichnis dieses Zeitraumes (wie z. B. „Der Verein Berliner Presse und seine Mitglieder 1862—1912“, Hrsg. Paul Schlenther, oder Kürschners „Allg. Dt. Literaturkalender“) vermerkt: Erst 1922 verzeichnet „Wer ist Wer“ Lesser (in seinem 72. Lebensjahr) als Berliner Korrespondenten des „Neuen Wiener Tagblatts“ mit der Anschrift: Charlottenburg, Knesebeckstr. 20/21. Sonst ist Lesser nur noch 1929 in „Sigilla Veri (Ph. Stauff’s Semi-Kürschner) Lexikon der Juden, -Genossen und -Gegner aller Zeiten und Zonen, insbes. Deutschlands, der Lehren, Gebräuche, Kunstgriffe und Statistiken der Juden sowie ihre Gaunersprache, Trugnamen, Geheimbünde usw.“, Bd. 3. S. 1041, verzeichnet, mit dem zusätzlichen Hinweis auf eine Buchpublikation von Lesser: „Juden in moderner Rassentheorie“ (.Tüd. Verlag 1911).
Lessers Briefe sind in mehrfacher Hinsicht wertvolle Zeitdokumente. Sie enthalten persönliche Erinnerungen an den alten Fontane, vor allem an ein hochbedeutendes Gespräch über die Bismarcksche Polen-Politik, aber auch an Fontanes Beziehungen zu der Berliner Zwanglosen Gesellschaft sowie an seine Stellung zum zeitgenössischen Naturalismus. In diesen Briefen äußert sich Lesser vermutlich zum letzten Mal kritisch über die deutsche Literatur des historisch gewordenen 19. Jahrhunderts. Dabei erweist sich Lesser wie Fontane als ein bewußt bescheidener aber mutiger Kritiker, der einen Autor oder ein Kunstwerk nicht nach literarischen Generationen oder Schulen oder Erfolg, sondern allein nach der persönlichen Leistung beurteilt. Mag man den Bewertungen einzelner Romane (so vor allem „Quitt“) Fontanes nicht ganz zustimmen, so kann man doch sagen, daß Lesser Fontane im ganzen gerecht wird.
Die Erinnerungen des damals ,,87jährige[n] fast blindern] und schwerhörigefnl Mann [es]“ (wie die Frau von Lesser in einem handschriftlichen Nachtrag zu dem ersten Brief ihren Mann beschreibt) enthalten einige (bei dem hohen Alter und großen Zeitabstand durchaus verständliche) Ungenauigkeiten, die in den Anmerkungen sachgemäß korrigiert werden. Häufige Schreibfehler in dem ersten Bi-ief, den Lesser (wie seine Frau in einem Nachtrag auch erklärt) „einem ungeübten Sekretär diktiert“ hat, wurden im Text stillschweigend korrigiert.
(1) NeuendorfWollin' 1 , d. 8. Oktober 1937
Hochgeehrter Herr!
Leider. Mit diesem kargen Wort muß ich meinen Brief anfangen und beenden. Leider kann ich Ihnen nicht so dienen, wie ich möchte, denn meine Beziehungen zu Fontane waren ganz äußerlich, ich besitze keine Briefe von Fontane und glaube nicht, Ihnen etwas über ihn erzählen zu können, was Ihnen nicht schon aus anderen Quellen bekannt sein wird. Es ist richtig, ich gehöre zu den ältesten Mitgliedern der Zwanglosen, und habe seit der Gründung dieser freien Vereinigung im Januar 1881 oder 82 zusammen mit meinen Freunden Brahm und Schlenther mitgewirkt r \ Auch Ihr Verwandter Emil Schiff 0 gehörte zu den Begründern. Aus dem Verzeichnis 7 , das ich lange nicht in den Händen hatte, hätte ich entnehmen können, wer sonst noch zu den Gründern gehörte. Ich glaube, daß die Söhne Fontanes, wohl veranlaßt durch den Rechtsanwalt Paul Meyer 8 , der ihr Freund war, gleich im Beginn bei traten. Es waren das der spätere Legationsrat Fontane 1 , der Hauptmann Georg F ontane, der Lehrer an der Lichterfelder Kadettenanstalt 10 , und wenn ich nicht irre, der spätere Verlagsbuchhändler F. 11 . Nähere Beziehungen zu diesen Drei hatte ich aber leider nicht, der Hauptmann starb sehr bald an einer Blinddarmentzündung. Der alte Fontane trat den Zwang-