Heft 
(1977) 25
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die Herren Eltern doch auch. Aber ich sehe darin kein sonderliches Unglück, bin ich doch für meine Person 62 Jahre dabei geworden und hab ich doch, aller Nervosität unerachtet, im Wesentlichen das vom Leben gehabt, was andre Leute davon zu haben pflegen, und noch ein bischen mehr. Ich weiß auch, daß ich mich im Sommer 50, vor Wuth weinend, aufs Bett geworfen habe, weil ein viertelstündiger Gang durch die Luisenstraße-Sonne mich todtmatt gemacht hatte; seitdem sind 32 Jahre vergangen und unzählige Kraftmeier von damals schlottern, humpeln und husten jetzt um mich her. Auch Du wirst Dich erholen. Das Früh- aufstehn in Dämmer, das immer auf dem Qui vive sein müssen, die schlechte Verpflegung, Unachtsamkeit und Unsinnigkeiten in Bezug auf Kleidung und Diät, unrichtige Lebensanschauungen, und Aengstlichkeiten und Unsicherheiten im Gemüth, haben Deine gegenwärtigen Zustände herbeigeführt, aber wenn die Ursachen schwinden, werden allmälig auch die Wirkungen schwinden. Ich glaube mich auf psychische Zustände und auch auf Körperzustände, die mit dem Psychischen Zusammenhängen, wundervoll zu verstehn, denn ich habe sie seit über 30 Jahren an mir und Mama studirt; ich darf sagen, ich weiß in dieser Materie Bescheid, und für mich steht es [im MS versehentlich »stets es«] vorläufig fest, daß Du, wenn Du Dich morgen glücklich verlobtest und übermorgen mit Mama, mir und einer schweren Reise-Cassette nach Italien reistest, schon in München gut, in Verona sehr gut schlafen und in Rom als vollkommen Genesene Crokus und Anemonen pflücken und beides, unter Versicherungen überschwänglichen Glückes, in die Heimath schik- ken würdest. Ich weiß wohl, daß es auch Ausnahmen von dieser Regel giebt und daß manche »nur so hinschwinden«; aber zu diesen Aetherischen gehörst Du keineswegs und vorläufig halt ich mit tiefster Ueberzeugung an der Ansicht fest, daß Du, wie Du da bist, ein Produkt der »Ver­hältnisse« bist. Mit dem Augenblicke, wo sich diese Verhältnisse bes­sern, werden sich auch Deine Zustände bessern, und zwar wiederum ganz nach den Verhältnissen, entweder allmälig oder auch im Nu. Mit andern Worten: mäßiges Glück mäßige Kur, wunderbares Glück wunderbare Kur. Dies alles soll aber nicht heißen, daß ich Deinen gegenwärtigen Elendszustand im Geringsten bezweifelte, Du bist elend, aber trotzdem! Ich habe Deine Mama krank und unglücklich auf dem Bette liegen und durch einen Geldbrief oder einen schmeichelhaften Besuch oder einen Eis-Baiser auf der Stelle wieder zu Kräften kommen sehn. Und in dem allem war durchaus keine Komödie. Nervöse Menschen stellen alles auf den Kopf und können sich einen verdorbenen Magen durch Hummersalat oder Aalpastete kuriren, immer vorausgesetzt daß sie plötzlich einen Heißhunger auf das eine oder andre kriegen. Was sie vor allem brauchen ist Sonnenschein, Liebe, Glück, aber jeden Tag anders, jeden Tag neu, und wenn sich das alles wie beim Koch oder in der Apotheke bestellen ließe, so wären die nervösen Leute nicht blos die nettesten und heitersten, sondern auch die gesundesten.

Mit mir geht es etwas besser, aber immer noch nicht gut, was ich unter anderm auch daran sehe, daß ich noch immer keine Lust habe,

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