sprichst von »a romance in blank verse« und so was war mein Brief auch, insoweit ich meine 2tägige Situation in eine humoristisch höhere Sphäre zu heben suchte, sonst aber darf ich inhaltlich versichern: es ist alles die reine Wahrheit, auch keine Spur übertrieben, Zugabe ist nur das nachträgliche sich Drüberstellen, die Selbstpersiflage; — die beständige Verlegenheit, mein Angstgefühl und in Folge davon die große Nervenanstrengung sind wirklich so gewesen, wie ich sie geschildert habe. Das alles ist zum Lachen, aber doch wirklich auch zum Weinen; es ist dieselbe Macht der Vorstellung, dasselbe krankhafte Vorherrschen des Phantasie-Einflusses, den Du (leider gesteigert) nur zu gut kennst und wovon ich vor 4 Wochen in Bayreuth ebenfalls eine glänzende Probe gegeben habe.
Und da wären wir denn bei der Hauptsache: bei Deiner Krankheit, Deinen Zuständen. Denn es ist dieselbe Couleur in grün. Was sich nun herausstellt, habe ich es Dir nicht immer gesagt? Du dachtest dann, der Alte will es von sich abschütteln, will es sich bequem machen. Es war aber nicht so. Navtürlich konnte ich gegen die Kur in Bonn nichts haben, preise es auch, daß sie stattgefunden hat, denn sie hat nun Dich und Andre belehrt, daß die Hauptsache ganz wo anders liegt. Du bist hochgradig nervös (was etwas ganz andres und viel weniger Schlimmes ist, als »nervenkrank«) und mußt neben einzelnen Vorzügen, die daraus erwachsen und die vieleicht auch nicht ganz gering sind, die Nachtheile tragen lernen. Zu Zeiten mag dies riesig schwer sein und fast unmöglich erscheinen, es ist aber doch schon eine Hülfe, wenn man sich, auf öOfache Erfahrung gestützt, sagen kann: das sind Anfälle, schwere, schreckliche, aber sie gehen vorüber wie Zahnweh, wie Zahnweh, das einen auch rasend machen kann. Du mußt Dich damit setzen und ohne zuviel darüber nachzudenken, was umgekehrt eine große Gefahr ist. einfach ausprobiren, was zu thun ist, um den Sturm, wenn er kommt, nach Möglichkeit zu brechen. Mama, bei der nicht bildlich von Sturm zu sprechen ist, sondern von einem wirklichen Blasius, hat sich in beinah virtuoser Weise damit eingerichtet: sie setzt sich ans Fenster, sieht dem Unwetter ins Gesicht, strickt, ißt nichts und trinkt eine Flasche Moselwein. Solche Hausmittel mußt Du auch ausfindig machen, worin wir Dir, wie Du weißt, gern an die Hand gehn; Du kannst Einsamkeit suchen und Menschen suchen, Du kannst zu Mama ins Bett kriechen und kannst zu Tante Witte reisen, Du kannst Aethertropfen nehmen oder einen halben Schinken aufessen, Du kannst stumm sein oder peroriren, drei Stunden spatzieren gehn oder mit Frau Sternheim frühstücken, — das eine oder andre dieser Mittel pflegt immer zu helfen, nicht viel, aber ein bischen, und das bischen ist oft schon genug, einen unleidlichen Zustand in einen ertragbaren umzuwandeln. Ergebung und sich ausstudiren, philosophische Betrachtung und Pflichtgefühl und Bildung und Liebe, die, während man an andre denkt, vom eigenen Ich abzieht, das sind keine Radikalmittel, aber — Hülfsmittel. »Und das Leben besteht aus Hülfskonstruktionen«, sagte Richard Lucae.
24