Gestern war Tante Jenny hier, fünf Stunden nach der Uhr von Shrewsbury, von 5 bis 10. Von 5 bis 7 hielt ich Stand, dann las ich in meinem Zimmer Zeitungen von 7 bis 8 1 2 und von 8 1 ■> bis 10 war dann wieder Schlußsitzung beim Thee. Sie war von so glänzender Beredt- samkeit, daß mir die 3' •_> Stunden, die ich mit „auf dem Plan“ war, nicht lang geworden ist [sic!]. Zwei Stunden erzählte sie von alten Zeiten aus Swinemünde, dann anderthalb Stunden von Karlsbad, Fried- richsroda, Badbekanntschaften, von ihrem Vicar of Wakefield (der immer schlecht wegkommt und als Kommißknüppel über die Szene schreitet) von Kurt und seiner Geliebten und seinem Pferdesport, auch von Paul der nun doch wohl nach Amerika eingepackt werden wird und von Max in Woldenberg, mit dem es auch nicht gut stehen soll. Natürlich alles nur ich, ich, ich, und jenes erweiterte „ich“, das sich „Familie“ nennt und noch bedrücklicher wirkt, als das einfache „ich“, dem man, weil man selber ein „ich“ ist, schon ein bischen was zu gute hält. Aber die Vortragsweise war so virtuos, so reiz- und lebensvoll, so menschlich ächt, so muthig, so phrasenlos, daß ich doch ein Gefühl der Bewunderung nicht unterdrücken konnte. Vom Standpunkt höhrer Moral, landläufiger Bildung und feinerer Sitte, muß ich dies alles verwerfen, ja schrecklich Anden, vom Standpunkt des Künstlers und Novellisten aus. den lebendige Gestalten entzücken, war’s der reine Zucker. Nichts öde, langweilig, alles quietschte nur so. Nur darf man sie nicht unterbrechen, dann ist der Zauber gebrochen.
Heute Nachmittag traf ich beide Jennys, Mutter und Tochter, vor Blankensteins oder der furchtbaren Schasse Thür, und als dritte im Bunde: Minna v. Klöden, Minna Krause, meine alte Liebe vor nun 52 Jahren und noch länger. Denn es ging mir ähnlich wie Lepel, der, auf die Frage wann er zuerst geliebt habe, wehmüthig antwortete: in meinem 4. Jahr. Anno 37 kam Minna Krause mit ihrer noch schönen, höchstens 36 Jahre alten Mutter (denn sie hatte sich mit 15 Jahren verheirathet) aus dem . Oberon“ und ich stand im VorAur des Opernhauses und wartete auf Beide; Minna trug einen schottischen Mantel, eine Boa von Fe und einen eleganten weißen Atlashut, sah auch noch verklärt aus durch „O, Huon. mein Gatte“. — nun, kurz heraus, jeder Zoll eine Prinzessin, eine Fee in Fe, vielleicht auch eine Schlange in Boa, was nur den Reiz steigerte. — heute sah ich eine alte Backebeere, mit unglaublich wenig Zähnen und unglaublich viel Runzeln. Ich freute mich aber doch. Dabei nannte sie mich mit der größten Unbefangenheit „Du“, was mich gradezu rührte, denn man bleibt ein Schaf. Und nun lebe wohl, grüße Tante Anna und das junge Volk. Dein alter Papa.
Brief 310
Berlin 10. Sept. 89. Potsd. Str. 134 c.
Meine liebe Mete.
Heute früh kam Dein Brief, der uns eine große Freude war; die Alte war mir rührend dabei und kam immer wieder darauf zurück. Ich weiß