Literatur — nichts anderes als ein für den Verfasser selbst bestimmtes schriftliches Festhalten von Erlebtem, das ihm bedeutungsvoll erschienen war oder ihn besonders berührt hatte. An eine Publikation von Persönlichem, ja Intimem über so bekannte, mitten im politischen, bzw. journalistischen Leben stehende Zeitgenossen wie die Brüder Lindau war damals nicht zu denken. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß der Entwurf „Paul und Rudolf Lindau“ bereits nach der Begegnung am 25. Januar 1883 verfaßt wurde, obwohl der Plural in dem einleitenden Satz („bis 83 hatte ich nachstehende Begegnungen mit den Lindaus“) mehr dafür spricht, daß erst der außerordentliche Eindruck seines Besuchs bei Rudolf Lindau am 23. Februar 1883. Fontane überhaupt zum Schreiben über die Brüder veranlaßt hat. Seine früheren Begegnungen mit dem erst seit Ende 1878 in Berlin lebenden Rudolf Lindau dürften nämlich nicht allzu häufig' und — mit Ausnahme jener vom 25. Januar 1883, als er dem zurückhaltenden Legationsrat im Auswärtigen Amt näherzukommen suchte — nur sehr flüchtiger Natur gewesen sein. War doch anfänglich gerade die Übersiedlung Rudolfs nach Berlin, die Pauls ..Hof- und Ministerialperiode“ eingeleitet hatte, die Ursache dafür, daß Fontane sich aus einem Kreise zurückzog, in dem er „doch nie recht heimisch werden zu können“ glaubte (vgl. weiter unten, S. 43). Die Angabe in der Fontane-Chronik von Hermann Fricke, die — ohne Nennung der Quelle, doch sicher nach den Fricke „erhalten gebliebenen Auszügen und Abschriften“’ 1 aus Fontanes heute nicht mehr vorliegendem Tagebuch von 1883 — unter dem 25. Februar 1883 (zwei Tage nach dem Besuch bei Rudolf) verzeichnet: „Aufsatz .Meine Beziehungen zu den Lindaus“ gearbeitet“ 10 , läßt leider nicht erkennen, ob es sich um den Beginn oder eine Fortsetzung dieser Arbeit handelt. Auf jeden Fall zeugen die von Fontanes Hand stammende Überschrift des Entwurfs und der einleitende Satz davon, daß Fontane — ungeachtet der Tatsache, daß im Entwurf Rudolf Lindau nur dreimal nebenbei erwähnt wird - anfangs in einem Zuge über beide Brüder zu schreiben beabsichtigte. Daß Paul im Titel des Entwurfs zuerst genannt und zuerst behandelt wird — obwohl Fontane dessen Bruder Rudolf sehr bald als die in jeder Hinsicht beachtenswertere Persönlichkeit erkannte — erklärt sich wohl daraus, daß Fontane mit Paul Lindau bereits seit der Gründung der „Gegenwart“ im Jahre 1872 andauernde, zwar vorwiegend geschäftliche, doch bei allem skeptischem Vorbehalt gegen den glatten Allerweltskerl mitunter fast kameradschaftliche Beziehungen unterhielt 11 . Selbst für die zeitgenössische Literaturgeschichtsschreibung war ja Rudolf Lindau zunächst nur „der Bruder Paul Lindaus“ 12 . Dieser beherrschte nun einmal die literarische Szene der Gründerzeit. Paul vermittelte überdies Fontanes Kontakt zu R. Lindau: schon 1872 hatte er Fontane um Besprechung von dessen Kriegsbuch für die „Gegenwart“ gebeten (vgl. weiter unten Brief 2). Die darin enthaltene „kurze Personalnotiz“ über P.udolf, der „seit Anfang der fünfziger Jahre in Paris mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt... dann längere Zeit (gegen zehn Jahre) in Asien, namentlich Japan als Generalkonsul der Schweiz politisch tätig“ 13
29