Halten wir fest: der Entwurf „Paul und Rudolf Lindau“ wurde zwischen dem 25. Januar und Ende Februar 1883 verfaßt. Der Artikel „Verkehr mit Paul Lindau“ ist eine auf ein Drittel gekürzte Umarbeitung dieses Entwurfs von unbekannter Hand unter Hinzufügung einer weiteren Handschrift Fontanes vom März 1884. An der Veröffentlichung des Artikels 1924 in der „Vossischen Zeitung“ war Paul Dobert beteiligt. Da der annähernd zur gleichen Zeit wie Fontanes Aufzeichnung seines Gesprächs mit Paul Heyse (vom 2. März 1883) entstandene Essay „Rudolf Lindau“ eine weit größere stilistische Glätte aufweist als jene, liegt der Gedanke nahe, daß der Essay, wie er seit Jahrzehnten durch Ettlingers Herausgabe zum festen Werkbestand Fontanes gehört, zu einem späteren Zeitpunkt eine Überarbeitung erfahren hat, möglicherweise von Fontane selbst. „Rud. Lindaus Novellen“ blieben ihm bedeutend und wertvoll genug, um das Manuskript noch einmal vorzunehmen, hat er doch diese noch 1889 und 1894 in seiner Antwort auf eine Anfrage über die „besten Bücher“ uneingeschränkt empfohlen 37 . In einem Brief vom 6. Mai 1895 an den Sohn Theo begründete er seine Bezeichnung Friedrich Fontanes als belletristischen „Nummer-l-Verleger“ u. a. damit, daß in dessen Verlag die Arbeiten Rudolf Lindaus erschienen^. Als Heinrich Spiero 1909 anläßlich des achtzigsten Geburtstags Rudolf Lindaus die einzige Monographie über ihn schrieb, war er der Meinung, die Zeit dieses „echten Sohnes jenes realistischen Geschlechts“ werde erst kommen 39 . Doch hat die Zeit nicht für diesen Schriftsteller gearbeitet. Rudolf Lindaus beste Novellen sind voller Spannung, von stofflicher und geographischer Ausdehnung und angefüllt mit moralischen und ethischen Sentenzen; sie gehen weit über gekonnte Unterhaltungsliteratur hinaus. Dennoch stellen sie, da sie den Liebes- und Pflichtenkreis ihrer Personen nie ins Politische und Soziale ausdehnen, nicht das ganze Leben dar' 1 ". Was ihnen fehlt, ist jenes zukunftsweisende, lebensträchtige Element, das Fontanes Werk auszeichnet, es noch heute aussagestark macht und vor dem Vergessen bewahrte, dem der von Schopenhauer- schem Pessimismus beeinflußte Rudolf Lindau anheimflel. So kam es, daß Fontane ein reichliches Jahrzehnt nach seiner durch die Paul-und- Rudolf-Lindau-Aufzeichnungen belegten Hinwendung zu „den Lindaus“ die Huldigung und den tiefgefühlten Dank seines Gesprächspartners vom Februar 1883, der ihm damals Realismusfragen klären half und noch Anfang 1890 an der Feier zu seinem 70. Geburtstag teilnahm, für „Effi Briest“ entgegennehmen konnte: für diesen „besten Roman, der seit vielen, vielen Jahren in Deutschland geschrieben worden ist: wahr, rein, ergreifend, das Werk eines edlen, erfahrenen, nachsichtigen Menschen!"
Anmerkungen
1 Vgl. Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Band XXI/2: Literarische Essays und Studien, 2. Teil, München: Nymphenburger Verlagshandlung (im folg.: NFA) 1974, S. 230-238.
2 Vgl. Erhard Klette, Theodor Fontane als Kritiker deutscher erzählender Werke des 18. und 19. Jahrhunderts. Studien mit Benutzung unveröffentlichten Materials des Nachlasses. Diss. Phil. Greifswald 1923, S. 3; das Zitat aus dem Entwurf „Paul und Rudolf' Lindau“ auf S. 39 bis 42.