Heft 
(1977) 25
Seite
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Joachim Biener (Leipzig)

Das Kleist-Bild Theodor Fontanes

Zum 200. Geburtstage des Dichters.

D i e Überraschung im Kleist-Bilde Fontanes ist der Wandel seines Urteils über denPrinzen von Homburg im Verlaufe der 70er Jahre. Die Wirkung von Kleists letztem Drama bei der Lektüre von 1872t auf sich selbst faßte Fontane gleich am Beginn des formulierten Leseein­druckes so zusammen:

Den Eindruck, den ich von dem Stück genommen habe, trotzdem es überall interessiert und an vielen Stellen erschüttert, ist kein allzu günstiger. Das Talent ist außerordentlich groß: Ernst und Sorglichkeit der Arbeit unterstützen es; dennoch berührt mich das Ganze wie eine Verirrung. So soll man vaterländische Stoffe nicht behandeln. Es ist zweierlei, was mich daran verdrießt:

1. Die willkürliche Behandlung des Historischen; das Unechte des Kostüms, der Personen und Situationen.

2. Die Charakterzeichnung des Prinzen, der ein Haselant, aber kein Held und brandenburgischer Kriegsmann. 1

1876, in der Theaterkritik über dieHomburg-Inszenierung aus Anlaß von Kleists 100. Geburtstag 3 , schließt Fontane die Stückbetrachtung innerhalb der Kritik so:

.wenn wir das Stück in seiner Schönheit und Macht überhaupt wollen, so

müssen wir auch das wollen, was uns an ihm verdroß. Ein Triumph der Kunst, der sich in allen Kleistschen Arbeiten ausspricht, in diesem .Prinzen von Homburg 1 aber vielleicht am meisten. Die Klarheit und Konsequenz des Gewollten, das uns überkommende Gefühl absoluter künstlerischer Notwendigkeit entwaffnen zuletzt jeden Widerspruch und zwingen uns, auch das uns Widerstrebende das doch seinerseits erst das eine Vollkommenheit darstellende Ganze wieder zu dem macht, was es ist an den Anerkenntnissen dieser Vollkommenheit teilnehmen zu lassen. Gewiß wäre eine andere Lösung der Aufgabe nicht nur denkbar, sondern in gewissem Sinn auch wünschenswert gewesen, aber keine hätte vermocht, ein in sich geschlossenes, alle Disharmonien glänzender lösendes, dabei zugleich durch größere Kraft und Kühnheit ausgezeichnetes Kunstwerk herzustellen. 4

1872 kann sich Fontane der Wirkung desHomburg, der Läuterung und Entwicklung des Helden, zwar nicht völlig entziehen; aber er erstickt die Sympathien und verwirft das Stück. 1876 läßt er es in seiner Ganz­heit stärker auf sich wirken und bejaht es trotz relativierender Ein­schränkungen, die auf den Mittelteil der Stückbetrachtung beschränkt bleiben, in seiner Totalität; ja er feiert es jetzt sogar nicht nur alsdas schönste und vollendetste Stück Kleists, sondern alsein vollendetes 4 und als einenTriumph der Kunstüberhaupt. Er rückt damit den ..Homburg in die Nähe jenerVollendung 6 , die er an Shakespeare und auch an Gerhart HauptmannsVor Sonnenaufgang so bewunderte.

Was ist inzwischen geschehen? Wie ist es möglich, daß sich Fontane dem ..Prinzen nicht mehr verkrustet verschließt, sondern befreit öffnet und hingibt. Die Begegnung mit einer Aufführung kann und wird dabei eine Rolle spielen, besonders bei demkolossal empirischen Fontane, doch sie allein vermag den erheblichen ästhetischen und ideologischen Sinneswandel nicht hinreichend zu erklären, zumal die Einstudierung offensichtlich unauffällig, dadurch aber bis zu gewissem Grade offenbar

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