Heft 
(1977) 25
Seite
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über dieVerlobung in St. Domingo und zum Teil auch überMichael Kohlhaas, sicherer und gültiger geurteilt als über die Dramen. Zumin­dest gibt es hier kein demKrug-Urteil vergleichbares Fehlurteil. Natürlich sagen die Urteile auch hier viel über das urteilende Subjekt aus. Aber dieses Subjekt war selbst Erzähler, dem der entscheidende Durchbruch freilich erst bevorstand. Und das Objekt war hier mindestens von der sachlichen Form her objektiver und dadurch dem jeder Ekstase undExzentrizität 37 abholden kritischen Subjekt allgemein zugängiger, abgesehen von den einzelnen Werkinhalten.

Das insgesamt kritische und widersprüchliche Urteil Fontanes überrascht angesichts der tiefen ideologischen und ästhetischen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Künstlern. Da müßten doch zunächst das gemein­same Leiden am Preußentum und der Wille zu dessen Überwindung bei Fontane zu tiefer Affinität geführt haben. Doch Kleists Ahistorizität, sein Ethizismus und seine kühnen ästhetischen Neuerungen erschwerten offenbar den Zugang. Das Verständnis des romanhaften Gestalters überlegener Frauengestalten bewährte sich wenigstens im Falle der ..Marquise, während Alkmene Fontane offenbar fremd blieb, von Penthesilea gar nicht zu reden. Die tiefsten Gemeinsamkeiten liegen im Ästhetisch-Formalen. Fontane und Kleist sind letztlich redende, um den anschaulichen und nuancierten Sprechausdruck der Figuren und des Erzählers bemühte Schriftsteller, Kleist als Dramatiker und Erzähler, Fontane als Epiker. Seine WerkeSchach von Wuthenow,Frau Jenny Treibei undEffi Briest, um nur diese Beispiele zu nennen, weisen dialogisch-dramatische Strukturen auf. Beim Figurenaufbau, besonders bei der unmerklichen, hochnätürlichen Stilisierung der Figurenrede hat der Causeur Fontane das Prinzip derallmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden in ästhetisch angemessener Weise beherzigt, so daß zumindest die Illusion scheinbarer Spontaneität und Mündlichkeit des Sprechens entsteht. Dennoch scheint ihm nicht bewußt geworden zu sein, daß die Mimik und Gestik der Rede beim Naturalismus, bei Gerhart Hauptmann wie bei ihm selbst, von Kleist und Büchner, den er offenbar nicht kannte, herkommt :w .

Trotz dieser Gemeinsamkeiten im Menschenbild und in der anschaulichen rhetorisch-gestischen Gestaltungs- und Darbietungsweise 39 , die Fontane faktisch geradezu als Erben und Weiterführer des literarischen Schaffens von Heinrich von Kleist, erscheinen lassen, ist Fontanes direktes ästhe­tisches Urteil über Kleist nicht auf der Höhe seiner objektiven Kleist- Beziehung. Auch seine praktische, werkimmanente Kleist-Beziehung ist ein Triumph der Kunst /, °.

Es gibt also im wesentlichen nur objektiv-typologische, keine einbekann­ten subjektiv-genetischen Kontakte. Dieser Umstand erleichterte die ein­seitige historische Rezeption der beiden am Preußentum leidenden, um seine Wandlung bzw. Überwindung ringenden Schriftsteller. Das natio­nalistische Deutschland rezipierte mythisierend-verfälschend Kleist und den konservativen Fontane, das sozialistische Deutschland der DDR

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