über die „Verlobung in St. Domingo“ und zum Teil auch über „Michael Kohlhaas“, sicherer und gültiger geurteilt als über die Dramen. Zumindest gibt es hier kein dem „Krug“-Urteil vergleichbares Fehlurteil. Natürlich sagen die Urteile auch hier viel über das urteilende Subjekt aus. Aber dieses Subjekt war selbst Erzähler, dem der entscheidende Durchbruch freilich erst bevorstand. Und das Objekt war hier mindestens von der sachlichen Form her objektiver und dadurch dem jeder Ekstase und „Exzentrizität “ 37 abholden kritischen Subjekt allgemein zugängiger, abgesehen von den einzelnen Werkinhalten.
Das insgesamt kritische und widersprüchliche Urteil Fontanes überrascht angesichts der tiefen ideologischen und ästhetischen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Künstlern. Da müßten doch zunächst das gemeinsame Leiden am Preußentum und der Wille zu dessen Überwindung bei Fontane zu tiefer Affinität geführt haben. Doch Kleist’s Ahistorizität, sein Ethizismus und seine kühnen ästhetischen Neuerungen erschwerten offenbar den Zugang. Das Verständnis des romanhaften Gestalters überlegener Frauengestalten bewährte sich wenigstens im Falle der ..Marquise“, während Alkmene Fontane offenbar fremd blieb, von Penthesilea gar nicht zu reden. Die tiefsten Gemeinsamkeiten liegen im Ästhetisch-Formalen. Fontane und Kleist sind letztlich redende, um den anschaulichen und nuancierten Sprechausdruck der Figuren und des Erzählers bemühte Schriftsteller, Kleist als Dramatiker und Erzähler, Fontane als Epiker. Seine Werke „Schach von Wuthenow“, „Frau Jenny Treibei“ und „Effi Briest“, um nur diese Beispiele zu nennen, weisen dialogisch-dramatische Strukturen auf. Beim Figurenaufbau, besonders bei der unmerklichen, hochnätürlichen Stilisierung der Figurenrede hat der Causeur Fontane das Prinzip der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ in ästhetisch angemessener Weise beherzigt, so daß zumindest die Illusion scheinbarer Spontaneität und Mündlichkeit des Sprechens entsteht. Dennoch scheint ihm nicht bewußt geworden zu sein, daß die Mimik und Gestik der Rede beim Naturalismus, bei Gerhart Hauptmann wie bei ihm selbst, von Kleist und Büchner, den er offenbar nicht kannte, herkommt :w .
Trotz dieser Gemeinsamkeiten im Menschenbild und in der anschaulichen rhetorisch-gestischen Gestaltungs- und Darbietungsweise 39 , die Fontane faktisch geradezu als Erben und Weiterführer des literarischen Schaffens von Heinrich von Kleist, erscheinen lassen, ist Fontanes direktes ästhetisches Urteil über Kleist nicht auf der Höhe seiner objektiven Kleist- Beziehung. Auch seine praktische, werkimmanente Kleist-Beziehung ist ein Triumph der Kunst /, °.
Es gibt also im wesentlichen nur objektiv-typologische, keine einbekannten subjektiv-genetischen Kontakte. Dieser Umstand erleichterte die einseitige historische Rezeption der beiden am Preußentum leidenden, um seine Wandlung bzw. Überwindung ringenden Schriftsteller. Das nationalistische Deutschland rezipierte mythisierend-verfälschend Kleist und den konservativen Fontane, das sozialistische Deutschland der DDR
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