Theodor Fontane sehr schätzte. Von dieser Wertschätzung zeugen die bekannten, aus den Jahren 1889 und 1894 stammenden Verzeichnisse des deutschen Romanciers über die „besten Bücher“ und „Was soll ich lesen?“ 1 , die Werke von über 70 Autoren enthalten. Hier nahm Fontane Lev Tolstojs Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ (1884—1886) mit dem Vermerk „Meisterstück“ auf. Eine so hohe Bewertung kommt sonst in diesen Verzeichnissen nicht vor. Das rührt nicht zuletzt daher, daß im „Tod des Iwan Iljitsch“ das aus dem Leben gegriffene Material und die Art seiner Verarbeitung Fontanes Schaffensweise außerordentlich verwandt sind.
In der nur mit einem einzigen Helden gestalteten Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ bringt Tolstoj das Grausame im Alltag und damit das Tragische im Gewöhnlichen zum Ausdruck. Genau das tat auch der alte Fontane in seinen Werken der achtziger und neunziger Jahre. Lev Tolstoj zeigt ein äußerlich wohlgeordnetes Leben, das aber nichts Echtes enthält und eigentlich nur ein Abklatsch des Lebens ist. Dem Helden Tolstojs, wie auch vielen Gestalten Fontanes kommt es darauf an, leicht und angenehm zu leben und die äußeren Formen zu wahren. Iwan Iljitsch ist immer darauf aus, „nach oben“ zu gelangen, — in das Milieu der „Starken dieser Welt“; wie ein Schwamm saugt er ihre Moral, ihre Denkweise, ihre Manieren und ihre Beziehungen zu anderen in sich auf. Tolstojs Held hat keine Individualität, denn sein gesamtes Leben hindurch strebt er danach, sein Dasein und Denken nach dem Muster und dem Vorbild derer zu gestalten, die „oben“ sind. Die aber, die er nachahmt, besitzen keine geistigen Werte. Iwan Iljitsch kommt in seinem ganzen langen Leben niemals mit lebendigen Interessen in Berührung; nie spürt er echte menschliche Gefühle, so daß er schließlich seine Persönlichkeit verliert. Der sowjetische Tolstoj-Forscher M. B. Chrapcenko schreibt: „Im ,Tod des Iwan Iljitsch' zeigte Tolstoj den realen historischen Prozeß, den Gor’kij in anderem Zusammenhang die Zerstörung der Persönlichkeit genannt hat.“ 2
Der Held wird in dieser Erzählung nicht — wie sonst meistens bei Tolstoj — seiner Umwelt gegenübergestellt. Im Gegenteil, die Aufmerksamkeit des Autors konzentriert sich darauf, den Prozeß des „Hineinwachsens“ Iwan Iljitschs in seine Umwelt darzustellen. Tolstoj zeigt, wie die Fäden, die den Helden mit der Umwelt verbinden, allmählich zunehmen, wie sie schließlich — einem Spinnennetz gleich — die lebendige Individualität Iwan Iljitsch Golowins zugrunde richten.
Die Macht der Umwelt, der verderbliche Einfluß von Kastengesetzen auf menschliche Schicksale und die „Macht der Gewohnheit“ sind zentrale Probleme, mit denen sich auch Theodor Fontane in vielen Werken befaßt hat, angefangen mit der Erzählung „Schach von Wuthenow“ und endend mit dem Roman „Effi Briest“.
In Fontanes Briefen, seinen Tagebüchern und anderen Archivmaterialien gibt es keine Zeugnisse dafür, daß der deutsche Schriftsteller Lev Tolstojs Roman „Anna Karenina“ gelesen hat. Vergleicht man jedoch „Effi Briest“
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