Heft 
(1977) 26
Seite
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Theodor Fontane sehr schätzte. Von dieser Wertschätzung zeugen die bekannten, aus den Jahren 1889 und 1894 stammenden Verzeichnisse des deutschen Romanciers über diebesten Bücher undWas soll ich lesen? 1 , die Werke von über 70 Autoren enthalten. Hier nahm Fontane Lev Tolstojs ErzählungDer Tod des Iwan Iljitsch (18841886) mit dem VermerkMeisterstück auf. Eine so hohe Bewertung kommt sonst in diesen Verzeichnissen nicht vor. Das rührt nicht zuletzt daher, daß im Tod des Iwan Iljitsch das aus dem Leben gegriffene Material und die Art seiner Verarbeitung Fontanes Schaffensweise außerordentlich ver­wandt sind.

In der nur mit einem einzigen Helden gestalteten ErzählungDer Tod des Iwan Iljitsch bringt Tolstoj das Grausame im Alltag und damit das Tragische im Gewöhnlichen zum Ausdruck. Genau das tat auch der alte Fontane in seinen Werken der achtziger und neunziger Jahre. Lev Tolstoj zeigt ein äußerlich wohlgeordnetes Leben, das aber nichts Echtes enthält und eigentlich nur ein Abklatsch des Lebens ist. Dem Helden Tolstojs, wie auch vielen Gestalten Fontanes kommt es darauf an, leicht und angenehm zu leben und die äußeren Formen zu wahren. Iwan Iljitsch ist immer darauf aus,nach oben zu gelangen, in das Milieu derStarken dieser Welt; wie ein Schwamm saugt er ihre Moral, ihre Denkweise, ihre Manieren und ihre Beziehungen zu anderen in sich auf. Tolstojs Held hat keine Individualität, denn sein gesamtes Leben hin­durch strebt er danach, sein Dasein und Denken nach dem Muster und dem Vorbild derer zu gestalten, dieoben sind. Die aber, die er nachahmt, besitzen keine geistigen Werte. Iwan Iljitsch kommt in seinem ganzen langen Leben niemals mit lebendigen Interessen in Berührung; nie spürt er echte menschliche Gefühle, so daß er schließlich seine Per­sönlichkeit verliert. Der sowjetische Tolstoj-Forscher M. B. Chrapcenko schreibt:Im ,Tod des Iwan Iljitsch' zeigte Tolstoj den realen histo­rischen Prozeß, den Gorkij in anderem Zusammenhang die Zerstörung der Persönlichkeit genannt hat. 2

Der Held wird in dieser Erzählung nicht wie sonst meistens bei Tolstoj seiner Umwelt gegenübergestellt. Im Gegenteil, die Aufmerk­samkeit des Autors konzentriert sich darauf, den Prozeß desHinein­wachsens Iwan Iljitschs in seine Umwelt darzustellen. Tolstoj zeigt, wie die Fäden, die den Helden mit der Umwelt verbinden, allmählich zunehmen, wie sie schließlich einem Spinnennetz gleich die lebendige Individualität Iwan Iljitsch Golowins zugrunde richten.

Die Macht der Umwelt, der verderbliche Einfluß von Kastengesetzen auf menschliche Schicksale und dieMacht der Gewohnheit sind zentrale Probleme, mit denen sich auch Theodor Fontane in vielen Werken befaßt hat, angefangen mit der ErzählungSchach von Wuthenow und endend mit dem RomanEffi Briest.

In Fontanes Briefen, seinen Tagebüchern und anderen Archivmaterialien gibt es keine Zeugnisse dafür, daß der deutsche Schriftsteller Lev Tolstojs RomanAnna Karenina gelesen hat. Vergleicht man jedochEffi Briest

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