mit „Anna Karenina“, lassen sich eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten in Motiven und Situationen feststellen, obwohl die Romane im Grad der Meisterschaft, in der Breite der Erfassung der Realität und in der Problematik unterschiedlich sind.
In gewisser Hinsicht ist die Entstehungsgeschichte der beiden Romane einander ähnlich. In einer Tagebuchnotiz vom Februar 1870 hat die Frau des russischen Schriftstellers S. A. Tolstaja festgehalten, daß Lev Tolstoj einen Roman über das tragische Schicksal einer verheirateten Frau aus der höchsten Gesellschaft zu schreiben beabsichtigte. Die Arbeit nahm er jedoch erst im Jahr 1873 auf. Einen erschütternden Eindruck hatte auf Lev Tolstoj der Selbstmord der Lebensgefährtin des benachbarten Gutsbesitzers A. N. Bibikov gemacht, die sich unter einen Zug warf. „In den ursprünglichen Fassungen konzentrierte sich der Kern des Romansujets auf das Familiendrama der Karenins; die Gestalt der Heldin (Tatjana Stawrowitsch) enthielt viele negative Züge; ihr Mann hingegen war eher positiv als negativ angelegt.“ 3 Der Ideengehalt erweiterte sich jedoch allmählich; aus einem enggefaßten Familienroman wurde eine große epische Erzählung über das Leben der russischen Gesellschaft nach den Reformen von 1861. Ursprünglich waren die Gatten Stawrowitsch (sehr charakteristisch ist, daß zwischen ihnen ein großer Altersunterschied besteht) und der junge Offizier Balaschew als Haupthelden gedacht. In der ersten Fassung war Tatjana eine verlogene, egoistische, sinnliche Frau, die die Schuld an dem Familiendrama trug. Sie verließ ihren Mann und begann mit Balaschew ein neues Leben. Sie frönte jedoch vor allem ihrer Vergnügungssucht und war ihrer neuen Familie und den Kindern nicht ehrlich zugetan. Innerlich entleert, müde geworden und zerbrochen endete die Heldin ihr Leben durch Selbstmord. Ihr Mann, der bereits bejahrte Michail Michailowitsch, war als ein edler, kluger und gütiger Mensch angelegt, der vergeblich versuchte, der Frau den Weg zur Rettung zu weisen.
Tolstoj empfand das Beschränkte des Entwurfs und bereits auf dem Rande dieses Manuskripts skizzierte er den Plan eines komplizierteren und umfassenderen Werks, des künftigen Romans „Anna Karenina“. Bekanntlich haben das in der Berliner Gesellschaft Aufsehen erregende Duell und der Zerfall der Familie des Barons von Ardenne Fontanes Roman „Effi Briest“ angeregt. Den Romanen „Anna Karenina“ und „Effi Briest“ lagen also reale Tatsachen und Berichte von Augenzeugen zugrunde. Sie folgen in dieser Hinsicht der allgemeinen Tendenz der europäischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Wirklichkeit genauer und wahrhaftiger widerzuspiegeln sowie Sujets und Helden aus dem täglichen Leben zu suchen. Im „Tagebuch eines Schriftstellers“ schreibt F. M. Dostoevskij: „Spüren Sie eine andere, auf den ersten Blick vielleicht nicht so markante Tatsache des wirklichen Lebens auf — und sollten Sie nur imstande sein, Augen dafür zu haben, so werden Sie eine Tiefe in ihr finden, wie selbst Shakespeare sie nicht hat... Denn nicht nur um künstlerische Werke zu schaffen, muß man Künstler sein, sondern auch um die Tatsachen zu bemerken.“ 4
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