Heft 
(1977) 26
Seite
91
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habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam... Ein Streber war er, weiter nichts. Ehre, Ehre, Ehre... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. (S. 288 f.) 12 Diese Urteile entsprechen ganz der Bewertung Karenins und Innstettens durch ihre Schöpfer. Beide Ehemänner werden als jeden menschlichen Gefühls bare, mechanisch denkende Personen dargestellt. Karenin ent­wickelte sich unter den Bedingungen einer spezifischen Amtstätigkeit, und gerade dies bestimmte seine Weltauffassung und das Spektrum seiner Gefühle. Er ist fest davon überzeugt, daß er immer recht hat und daß seine Tätigkeit notwendig und nützlich sei. Karenin ist bemüht, alles in keinen Widerspruch duldende und keinem Zweifel unterliegende Punkte und Paragraphen zu pressen. In allen Lebenslagen denkt und handelt er als Beamter, er versteht nicht, daß die Vielfalt menschlicher Beziehungen unmöglich in die für ihn gültigen Formen hineinpaßt. Er fürchtet sich vor dem Leben, und wenn es sich seiner Gedanken bemächtigt, wendet er sich ab und gibt dem Schein den Vorzug vor der Realität. Tolstoj gibt seiner Einschätzung Karenins Ausdruck, wenn er schreibt:Er hatte Zeit seines Lebens mit Akten und dienstlichen An­gelegenheiten zu tun gehabt, die nur Reflexe des Lebens darstellten. Und bei jeder Berührung mit dem Leben war er ihm ausgewichen. (Band 6, S. 200). Eines der wichtigsten Prinzipien Karenins ist es, den Anstand zu wahren. Er achtet sehr auf seine Reputation, und als die Entzweiung in seiner Familie eintritt, denkt er vor allem daran, was wohl dieGesellschaft dazu sagen wird.

Äußerlich macht Karenin den Eindruck eines prinzipienstrengen und unbeugsamen Menschen. Tolstoj legte jedoch überzeugend seine maßlose Eigenliebe und Doppelzüngigkeit bloß. Karenin ist ein Konservativer, der Falschheit und Betrug nicht verabscheut. Der grundlegende seelische Konflikt dieser Gestalt ist der Widerspruch zwischen natürlichen, mensch­lichen Bestrebungen und der bürokratischen Beschränktheit des Beamten. Ganz selten erwachen in ihm auch Gefühle (Begegnung mit Anna nach ihrer Niederkunft, Sorge um die Tochter Annas und Wronskis), aber diesesAufleuchten, diese Minuten, in denen er dem Gebot des natür­lichen Gefühls folgt, bleiben vereinzelt.Durch die gemeinsame Einwir­kung von inneren Faktoren und der Umwelt verlöscht es. 13 Karenin ist zu sehrMaschine, die offizielleMoral und die bürokratischenPrin­zipien sind zu tief in sein Bewußtsein gedrungen.

In vielen Charakterzügen ähnelt Baron Innstetten der Gestalt Karenins. Innstetten hält nicht etwa um Effis Hand an, weil er leidenschaftlich in sie verliebt ist; sein Anlaß für die Gründung einer Familie liegt vor allem darin, daß ein unverheirateter Landrat als unsolide gilt, was für die weitere Karriere nicht förderlich wäre. In den ersten Tagen des gemeinsamen Lebens in Kessin ist die einzige ihn bewegende Frage, ob seine Frau ihm helfen wird, die Mehrheit der Stimmen zu gewinnen,