Kessin zählt Fontane die traditionellen Gesprächsthemen auf: Bismarck, Ernennungen und Ordensverleihungen, Wahlen. Dann bittet er Effi, etwas aus „Lohengrin“ oder der „Walküre“ zu spielen, denn er gibt sich gern als Wagner-Schwärmer. Der Autor bemerkt jedoch in diesem Zusammenhang ironisch: „Was ihn zu diesem hingeführt hatte, war ungewiß; einige sagten, seine Nerven, denn so nüchtern er schien, eigentlich war er nervös; andere schoben es auf Wagners Steilung zur Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide recht“ (Band 7, S. 108).
Bei Tolstoj und Fontane ist das Kunstverständnis ihrer Gestalten ein Prüfstein für den Charakter. Nur ganz integre, reine und aufrichtige Naturen vermögen Kunst in vollem Maße zu begreifen und zu genießen. Für trockene Pedanten, für beschränkte und unschöpferische Menschen bleibt sie ein Buch mit sieben Siegeln und das Hören von Musik, der Besuch von Konzerten ist für sie nur eine Formsache.
Ein charakteristischer Zug sowohl Karenins als auch Innstettens ist ihr Karrierismus; auf jede Weise wollen sie „nach oben“ gelangen. Wenn Fontane die geistige Armut Innstettens aufzeigt, meint er die Fäulnis der gesamten Gesellschaft, denn in den Händen von Menschen seines Schlages ist die Macht konzentriert; Innstetten wird von Bismarck begünstigt, er hat sogar das Wohlwollen des Kaisers. Genau wie Innstetten spricht auch Karenin ständig von „gewissen Gesetzen des Anstands, die sich nicht ungestraft übertreten lassen“ (Band 6, S. 205), über die „Ehre“ (Band 6, S. 298), er denkt sogar an ein Duell mit Wronski (Band 6, S. 393 f.), aber die Furcht um sein Leben schreckt ihn ab — um „das Leben eines Staatsmannes, den Rußland braucht“ (Band 6, S. 394) — wie ■er meint. Ist nun seine Tätigkeit wirklich notwendig und dem Staat von Nutzen? Tolstoj verneint dies, ja mehr noch, er hält sie nicht nur für unnütz, sondern auch für gefährlich und schädlich.
In der Welt der Karenins und Innstettens werden selbst hohe, geheiligte Begriffe verzerrt oder ihres Inhalts beraubt.
Sich unbewußt dem Kodex der „Adelsehre“ unterwerfend, fordert Innstetten Crampas zum Duell und tötet ihn, obwohl er selbst im Gespräch mit Wüllersdorf zugibt, daß er keinen Haß gegen Effi empfinde und ohne Rachedurst sei. Doch ist der Gedanke, daß irgend jemand mit einem zweideutigen Lächeln auf seine Vergangenheit anspielen könnte, ihm unerträglich. „Wir treten so auf, wie es der öffentlichen Meinung entspricht“, „unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“ — diese Worte Wüllers- dorfs treffen auch auf ihn zu, wenn er auch in der Tiefe seiner Seele die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Gesetze, nach denen er lebt, spürt. Nach Crampas’ Tod beginnt er an der Wahrheit der moralischen Prinzipien zu zweifeln, an die er glaubte und die er sein ganzes Leben hindurch befolgt hat.
Innstetten kommt zu der Erkenntnis, daß er „einer Vorstellung, einem Begriff zuliebe eine Komödie“ aufgeführt hat. Nach dem ersten Schritt ist er jedoch gezwungen, auch den zweiten zu tun — er trennt sich von
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