Effi und richtet sie und sich zugrunde. Die Zeit vergeht, aber die Wunde in Innstettens Seele schließt sich nicht: er ist schuldig an Crampas’ Tod, an den Leiden Annies, Effis und ihrer Angehörigen. Das Leben hat für ihn seinen Sinn verloren, und selbst sein dienstlicher Aufstieg freut ihn nur wenig. Innstetten beginnt zu erkennen, „daß es ein Glück gebe, daß er es gehabt, aber daß er es nicht mehr habe und nicht mehr haben könne“, und gibt damit zu, daß sein früheres Leben und jene „eisernen Paragraphen“, die er befolgte, falsch waren.
Viel Gemeinsames gibt es auch im Schicksal und in den Charakteren Anna Kareninas und Effis. In beiden Romanen wird ein für die Adelsepoche typischer Ehevertrag geschlossen; das Familienleben beider Heldinnen verläuft unglücklich, beide gehen zugrunde. Die Ursache für diese Gleichartigkeit in Annas und Effis Schicksal liegt in der Ähnlichkeit der historischen Bedingungen in Deutschland und Rußland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und in der Übereinstimmung der Positionen, die Tolstoj und Fontane hinsichtlich der Adelsgesellschaft einnehmen. Beide Künstler erkennen die Moral dieser Gesellschaft nicht an, sie zeigen deren Haltlosigkeit und stellen sie in sehr negativen Gestalten dar, die mehr oder weniger am Untergang der Heldinnen beteiligt sind (Fürstin Betsy, Lydia Iwanowna, Wronskis Mutter in „Anna Karenina“, Geheimrätin Zwicker, Sidonie von Grasenabb in „Effi Briest“). Anna Karenina gehört ihrer Geburt, Erziehung und Stellung nach der gehobenen Gesellschaft an. Effi Briest ist die Tochter eines brandenburgischen Gutsbesitzers aus der Mittelschicht.
Anna ist sehr vielseitig talentiert: sie hat umfangreiche Kenntnisse in Literatur und Kunst, sie möchte ein wirkliches Leben leben. Wie auch viele andere Heldinnen aus Fontanes Romanen — Melanie („L’Adultera“), Cecile, Christine („Unwiederbringlich“), Therese, Sophie, Manon („Die Poggenpuhls“), Lena Nimptsch („Irrungen-Wimmgen“), Stine, Mathilde Möhring — hat Effi Briest keine eigentliche Bildung erhalten. Die bürgerliche Gesellschaft verurteilt die unteren Volksschichten zur Unwissenheit und beraubt sie des Rechts auf Bildung; den Vertreterinnen der besitzenden Schichten werden nur armselige Brosamen hingeworfen, so daß der Wirkungsbereich der Frau künstlich eingeengt und auf die berüchtigten „3 K“ — Kirche, Küche, Kinder — beschränkt wird. Das Problem der Erziehung ist im Roman „Effi Briest“ organisch mit der Frage der Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. Unter den Bedingungen der Ausbeuterordnung wird die Frau aus dem gesellschaftlichen Leben eliminiert; sie spielt keine Rolle in ihm. Anstelle einer aktiven gesellschaftlichen Tätigkeit werden ihr Surrogate angebo- ten: Wohltätigkeitsveranstaltungen und Amateuraufführungen.
Als Fontane den Roman „Effi Briest“ schrieb, verfolgte er nicht das Ziel, lediglich das Schicksal einer „ungetreuen Frau“ zu schildern. Wie auch Tolstoj stellte er sich die weit schwierigere Aufgabe, die Haltlosigkeit der Gesellschaft aufzuzeigen. Als Bestätigung hierfür dient, daß Effis Liebesverhältnis nur angedeutet und die Gestalt Crampas’ fast gar nicht entwickelt ist. Crampas wird Effi deswegen sympathisch, weil er sich mit
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