ihr wie mit einer Gleichgestellten unterhält und, obwohl es etwas rein Äußerliches ist, ihr mit betonter Hochachtung und Verehrung begegnet, während Innstetten im Umgang mit seiner Frau den Ton eines Mentors und langweiligen Dozenten anschlägt. Effi ist bereit, mit dem Major davonzulaufen, obwohl sie ihn eigentlich nicht kennt und nicht durchschaut, daß er ebenso ein Sklave der Konvention und des berüchtigten „Ehrenkodexes“ ist wie ihr Mann. Crampas lehnt es ab, mit ihr fortzufahren, denn für ihn ist dieses Verhältnis eine vorübergehende Episode; in einem seinem Briefe erklärt er, daß er schließlich doch die Hand segnen muß, die diese Trennung über sie verhängt.
Effi und Anna Karenina können und wollen kein Doppelleben führen. Die Gesellschaft verstößt die Heldinnen der Romane Tolstojs und Fontanes lediglich deswegen, weil sie die äußeren Anstandsregeln nicht befolgt haben. Zu Beginn ihrer Ehe empfindet Anna Karenina noch Verehrung für die Bekannten und die Umgebung ihres Mannes, doch öffnen der Betrug und Zynismus der vornehmen Gesellschaft ihr schnell die Augen. Die meisten Frauen von Welt hatten „geheime Verhältnisse“, die allen bekannt waren; man wußte von den Beziehungen der Fürstin Betsy Twerskaja zu Tuschkewitsch, der Baronesse Schilton zu Petritzki, von den Affären der Mutter Wronskis und der Gräfin Lydia Iwanowna. Für Anna aber bedeutete die Liebe zu Wronski alles, und deswegen konnte sie sich weder mit der Rolle einer Geliebten noch mit der einer untergeordneten Frau begnügen, und sie zog den Tod der Sklaverei vor.
Zu Anna wie auch zu Effi fühlen sich die Kinder hingezogen, die einfachen Menschen vergöttern sie (die Dienerin in „Anna Karenina“, Roswitha in Fontanes Roman); wer seelische Reinheit, Schönheit und Zärtlichkeit zu schätzen vermag, ist von ihnen begeistert. Beide Heldinnen sind außerordentlich vertrauensselig. Dank ihrer Ehrlichkeit und Geradlinigkeit messen sie die Menschen ihrer Umgebung mit ihrem eigenen Maß und verleihen ihnen positive Eigenschaften, die gar nicht existieren (Annas Urteil über Wronski und seine Mutter; Effis Einschätzung Crampas’, der Geheimrätin Zwicker usw.).
Wronskis wie auch Crampas’ Interessenkreis ist sehr begrenzt; das Leben des Regiments und gesellschaftliche Zerstreuungen füllen den ersteren aus; die Pflichten eines militärischen Befehlshabers und die Zerstreuung einer Provinzstadt den Major Crampas.
In den Beziehungen Wronskis zu Anna und Crampas’ zu Effi ist viel Gemeinsames: es überwiegt die körperliche Leidenschaft, der eitle Wunsch, die anziehendste Frau der vornehmen Gesellschaft zu besitzen (Wronski), oder die schönste Dame des Nestes Kessin (Crampas). Das Leben von Crampas ist durchschnittlich und gewöhnlich: Umherwandern mit einer ungeliebten Frau von Garnison zu Garnison, kleine Intrigen und Verhältnisse mit Frauen. Das militärische Milieu, das Innstetten zu einem Pedanten, zu einem Verfechter des Kodexes der Adels-„Ehre“ und zu einem berechnenden Karrieristen gemacht hat, drückte auch Crampas seinen unverwechselbaren Stempel auf; er ist ein Gefangener
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