Heft 
(1977) 26
Seite
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der Verhältnisse. Er denkt nicht im Ernst daran, mit Effi ein neues Leben zu beginnen, er sieht den höchsten Sinn in den Vergnügungen des Tages und glaubt fest daran, daßalles Beste... jenseits davon liegt. Tolstoj hat in seinem Roman Dutzende von Menschen aus dem Volk eingeführt; die meisten sind nur mit wenigen Strichen, doch als positive Helden gezeichnet und mit hohen sittlichen Eigenschaften ausgestatlet. Tolstoj deckt in seinem Roman den krassen, unversöhnlichen Widerspruch zwischen Volk und Adel auf. Selbst Konstantin Lewin mit seinem weiten Gesichtskreis und Verständnis für den Bauer stößt bei wirtschaftlichen Veränderungen auf den versteckten Widerstand der Bauern, und ist nicht imstande, ihn zu überwinden.

In Tolstojs Roman wird der beginnende Prozeß der Umschichtung des Dorfes wiedergegeben und ein sehr breiter Kreis aktuellster Fragen berührt: Probleme der Familie und Ehe, Wechselbeziehungen zwischen Gutsbesitzern und Bauern, Kindererziehung, die wirtschaftliche Entwick­lung Rußlands, die Formen seines staatlichen Aufbaus, der Kampf der politischen Parteien. Dadurch erweiterte der Autor den Rahmen seines Hauptthemas und gab ein umfassendes Bild der gesamten Gesellschaft von der Bauemhütte bis zum Fürstenpalast:das Familienthema wird auf diese Weise zum Volksthema. 14

Fontanes Roman umfaßt einen kleineren Kreis von Problemen und sein Realismus ist begrenzter. Das ist nicht zuletzt durch die allgemeine Schwäche der realistischen Traditionen in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bedingt. Nur wenige Werke aus dieser Zeit, darunterEffi Briest, haben in ganz Europa Anerken­nung gefunden.

In Tolstoljs Roman werden die Grundlagen der bürgerlich-feudalen Gesellschaft und die Moral der herrschenden Klasse einer vernichtenden Kritik unterzogen. Tolstoj behauptet, daß die existierende Gesellschafts­ordnung den Menschen verkrüppelt, weil sie alles Menschliche in ihm zerstört (Karenin) und gnadenlos gegen ihn vorgeht, wenn er versucht, die Normen und Gesetze dieser Gesellschaft zu bekämpfen (Anna). Der einzige Weg zur Rettung ist der Weg zum Volk (Lewin). Die Moral des Volkes ist unvergleichlich höher und menschlicher als die adlig-bürger­liche Moral das ist eines der Motive in Tolstojs Roman. Die Haltlosig­keit der adligen Moral und des berüchtigten Ehrenkodexes wird auch von Fontane aufgezeigt. Innstetten erleidet einen Zusammenbruch, was er selbst bitter in der Szene mit Roswithas Brief konstatiert. Wüllersdorf sagt voller Überzeugung über diese einfache Frau:die ist uns über, worin ihm Innstetten beipflichtet:Finde ich auch. Diese Bekenntnisse sprechen für sich: Zwei Vertreter der herrschenden Klasse erkennen die moralische Überlegenheit eines einfachen Dienstmädchens an.

Gemeinsames findet sich auch in den Sujet-Uberschneidungen und den künstlerischen Mitteln in Tolstojs und Fontanes Romanen. Beim ersten Zusammentreffen Annas mit Wronski auf dem Bahnhof passiert ein Ereignis, das das Schicksal der Heldin gleichsam vorwegnimmt: ein

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