Liebe zum Sohn ist jedoch so groß, daß sie an seinem Geburtstag zu ihm kommt, ungeachtet aller Schwierigkeiten.
Die Sehnsucht nach einer Begegnung mit ihrer Tochter ist nach der Trennung auch Effis Lebensinhalt. Dieses Wiedersehen wird aber nur durch die Gattin des Ministers möglich, dem Innstetten untersteht, und der als Mann von Welt Effis Bitte nicht abschlagen kann.
In „Anna Karenina“ bewahrt Serjosha die Erinnerung an seine Mutter und die Liebe zu ihr; er glaubt nicht an die Erzählungen seiner Umgebung, die Mutter sei tot; er bekennt ihr dies während des Wiedersehns.
Der Verlauf der Begegnung zwischen Effi und ihrer Tochter wird in einem Gespräch der Heldin mit Roswitha vorweggenommen, in dem diese davon spricht, daß Annie ihrem Vater sehr ähnlich sei. Annie bleibt während der Begegnung mit der Mutter höflich und kühl, sie beantwortet die leidenschaftlichen Fragen der Mutter gleichmäßig mit „Ja“, „Nein“ und „Wenn ich darf“. Das sind eigentlich nicht die Antworten eines Kindes, es sind die Antworten Innstettens und Effi vermutet richtig: „ ... und ehe er das Kind schickt, richtet er’s ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei ,wenn ich darf“ (S. 289).
Das Wiedersehen Annas mit ihrem Sohn wird durch das Erscheinen Alexej Alexandrowitschs unterbrochen. Die von der Gleichgültigkeit der Tochter erregte und erschütterte Effi schickt diese selbst weg. Den Höhepunkt dieser Szene, ja den Höhepunkt des Romans bildet Effis nun folgender leidenschaftlicher Monolog, denn Annies Gleichgültigkeit ist der letzte Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt. Ihr Zorn und ihre Verachtung gegen die Gesellschaft sind bei weitem nicht nur der Ausdruck einer Augenblicksstimmung. Was sie sagt, ist erlitten, durchdacht und begründet.
Die Absurdität und Unnatürlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse werden in ihrer ganzen Grausamkeit im Bereich privater familiärer Verhältnisse deutlich. Ihre Unmenschlichkeit verwundet die Menschen zutiefst — das ist der Sinn der Wiedersehensszenen zwischen den Heldinnen und ihren Kindern in den Romanen Tolstoj s und Fontanes. Tolstojs und Fontanes Helden bringen typische historische Tendenzen einer bestimmten Gesellschaftsschicht zum Ausdruck. Der Tolstoj-Forscher I. N. Uspenskij sagt hierzu: „Tolstoj zeigt die organische Verbindung zwischen der Spezifik der Persönlichkeit und der Spezifik seiner Umgebung. Die Helden des Romans handeln nicht deshalb schlecht oder gut, weil sie von Geburt an schlecht oder gut sind, sondern weil sie von den typischen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie sich befinden, gezwungen werden, schlecht oder gut zu denken und zu handeln.“ 15 Tolstoj geht es darum, das Verhältnis zwischen Held und Gesellschafts-. Struktur seiner Umwelt aufzuspüren.
Vor eine ähnliche Aufgabe sah sich Fontane gestellt, als er an „Effi Briest“ arbeitete. In einem Brief vom 25. August 1896 machte er einige kritische Bemerkungen über Friedrich Spielhagens Roman „Zum Zeitvertreib“ ; er fand Spielhagens Verurteilung des Adels „nicht scharf
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