helden antizipieren. In dem Roman „Irrungen, Wirrungen“ wiederholt Lena Nimptsch gewissermaßen den Weg der Frau Dörr. Die dramatische Geschichte der Dienerin nimmt Effis Tragödie vorweg. In ihrer Jugend beging Roswitha einen „Fehltritt“, sie wurde von dem Kind getrennt, mußte die Heimat verlassen und bei reichen Leuten „in Stellung gehen“. Schwer und hart gestaltete sich ihr Leben, doch sie blieb unverändert tapfer, gütig und herzlich; sie ist taktvoller und verständnisvoller als Effis Eltern und ihr Gatte. Als sich alle von Elfi abwenden, findet nur Roswitha den Mut, von Innstetten fortzugehen und bei ihrer Herrin zu bleiben.
Die Gestalten der Dienerinnen — Roswitha und Johanna — korrespondieren nicht nur mit den Gestalten Effi und Innstetten, sondern sie ergänzen einander auch. Roswitha und Effi leben mit dem Herzen, sie sind empfänglicher, emotionaler und menschlicher als Johanna und Innstetten, die in allem der trockenen Logik und und der kalten Vernunft gehorchen. Innstettens Pedanterie und Herzlosigkeit finden ihren extremen Ausdruck bei Johanna, die ihren Herrn verehrt und ihn in allem nachzuahmen sucht. Nicht zufällig sieht Innstetten in einem Augenblick der Klarheit in Johanna die eigene Widerspiegelung. All das, was die Herrschaften in die Form erhabener philosophischer Sentenzen gießen, wird etwas gröber, aber unvergleichlich genauer im Gespräch der Dienerinnen dargelegt, wenn sie die Vorfälle in der Familie Innstetten besprechen.
Man kann ohne weiteres von einer Übereinstimmung der Grundideen in den Romanen „Anna Karenina“ und „Effi Briest“ sprechen. Sie ähneln ungeachtet des großen Unterschiedes in der Erfassung der Realität, der Problematik und anderem mehr einander in vielem, vor allem aber in der spannungsgeladenen Dramatik der Erzählung von Annas und Effis Schicksal, die in erster Linie durch den Höhepunkt des herannahenden tragischen Endes bedingt ist. Die scheinbare Zufälligkeit der Umschwünge im Sujet in „Anna Karenina“ und in „Effi Briest“ sind in Wirklichkeit Ausdruck einer unerbittlichen Gesetzmäßigkeit.
Eine Ähnlichkeit besteht auch darin, daß beide Romane tragisch, mit dem Untergang der Heldinnen, enden. Anna Karenina wird ihrer Umwelt kraß gegenübergestellt, sie ist eine lichte, ganze Natur, eine außergewöhnliche Erscheinung. Sie gleicht nicht den Menschen ihrer Umwelt, sie sticht scharf von diesem Milieu ab. Bei Fontane ist dieses Moment schwächer herausgearbeitet, besonders zu Beginn des Romans. Doch auch Effi hebt sich von dem Hintergrund der Menschen ihrer Umgebung schon allein dadurch ab, daß sie ihnen nicht ähnlich ist. Beide Künstler gaben ihren Gestalten die größtmögliche gesellschaftliche Konkretheit. Sowohl Anna als auch Effi sind ein Opfer der sie umgebenden Gesellschaft. Die Tragödie von Tolstojs Anna Karenina spielt sich allerdings vor einem wesentlich breiteren gesellschaftlichen Hintergrund ab als die Tragödie von Fontanes Effi Briest.
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