II. Fontanes Besprechung von Tolstojs Drama „Die Macht der Finsternis“ im Rahmen der internationalen Kritik
Ende der achtziger Jahre wandte sich Tolstoj dem dramatischen Genre zu. In Dramen wie „Die Macht der Finsternis“ und „Früchte der Aufklärung“ stellte er die Tragödie des alltäglichen Lebens des Volkes dar. Das Neue in der „Macht der Finsternis“ wurde von zahlreichen Kritikern entweder nicht verstanden oder bewußt verschwiegen und entstellt. In den Jahren 1887 bis 1890 erschien eine große Anzahl negativer Rezensionen über das Stück. Dies hatte einen besonderen Grund: Im Jahre 1886 war das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Aufhebung der Leibeigenschaft begangen worden, und die offizielle russische Presse verherrlichte in höchsten Tönen die Lage des russischen Bauern, der von Väterchen Zar „mit Wohltaten überhäuft worden sei“. Es ist verständlich, daß Tolstojs Stück, das die tatsächliche Lage des russischen Dorfes nach den Reformen schildert, dem offiziellen Rußland nicht behagte, werden hier doch die Obskuranten aller Schattierungen, mit dem allmächtigen Oberprokuror der Synode Pobedonoscev an der Spitze, entlarvt. In einem besonderen Erlaß wurde seine Aufführung in den staatlichen Theatern verboten, desgleichen seine Übersetzung ins Ukrainische, Lettische und in andere Sprachen des russischen Staates.
Die „Moskauer kirchlichen Nachrichten“ schrieben: „Wir können uns des Gedankens nicht erwehren, daß hier, in dieser ägyptischen Finsternis des Lasters und der scheußlichsten Verbrechen, unser gesamtes russisches Volk entehrt und geschmäht wurde.“ 20 Um eine frontale Attacke gegen Tolstoj zu reiten, war seine Autorität allerdings zu groß. Nur die offiziösen oder äußerst konservativen Zeitschriften erdreisteten sich dazu. Einige Rezensenten lehnten das Stück in verschleierter Form ab. Tolstojs künstlerisches Talent anzuzweifeln, war eine undankbare Aufgabe; die Kritiker und Theaterrezensenten machten darum Tolstoj als dem Meister der epischen Prosa ihre Komplimente und behaupteten dann beiläufig, seine Stücke seien nicht bühnengerecht; dem Autor der „Macht der Finsternis“ fehle das dramatische Talent Diesen Gedanken vertrat besonders der Theaterkritiker S. Vasil’ev. 21 Jevgenij Garsin meinte sogar: „Wenn mit der ,Macht der Finsternis' ein unbekannter, am Anfang stehender Autor hervorgetreten wäre, so hätte dieses Werk weder einen Verleger noch einen Leser gefunden.“ 22
Ähnliche Beurteilungen erfuhr das Stück auch von westeuropäischen Dramatikern. So stellte Henrik Ibsen, obwohl er die ihm innewohnende schonungslose Wahrhaftigkeit anerkannte und zugab, daß es einen starken Eindruck hervorrufe, in einem Brief vom 27. November 1888 an seinen Übersetzer Emanuel Hansen fest: „Indessen, es scheint mir, als verfüge der Autor nicht über die volle Beherrschung der dramatischen Technik. Im Stück ist mehr Gespräch als Aktion, und der Dialog kommt mir mehr episch als dramatisch vor; die Arbeit macht eher den Eindruck einer dialogischen Erzählung als eines Dramas. Aber die Hauptsache ist ja: in dem Ganzen lebt und offenbart sich der Geist eines genialen Dichters.“ 23
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