Fontanes Einschätzung des Stückes befindet sich — wie wir sehen — in vollem Einklang mit den Urteilen, die von Vertretern der russischen demokratischen Intelligenz über „Die Macht der Finsternis“ gegeben worden sind.
In seiner Besprechung der Aufführung des Dramas und in anderen Arbeiten bemerkt er, daß Tolstoj nicht nur Realist in des Wortes höchster Bedeutung sei, sondern auch großen Mut besaß, um sich den aktuellen und „brennenden“ Fragen seiner Zeit zuzuwenden. So spricht er in einer Rezension über die Aufführung der „Familie Selicke“ von Arno Holz und Johannes Schlaf in der „Freien Bühne“ am 7. April 1890 davon, die Dramen „Vor Sonnenaufgang“ von Gerhart Hauptmann und „Die Macht der Finsternis“ von Tolstoj seien „auf ihre Kunstart, Richtung und Technik hin angesehen keine neuen Stücke; die Stücke oder ihre Verfasser haben nur den Mut gehabt, in diesem und jenem über die bis dahin traditionell innegehaltenen Grenzlinien hinauszugehen“. 34 Fontane hatte erkannt, daß der Realismus in Tolstojs Drama nicht zuletzt davon abhing, daß sich der Autor den aktuellen, grundlegenden Fragen im Leben des russischen Volkes zugewandt hatte.
(Übersetzt von Gerhard Strozyk, Berlin)
Anmerkungen
1 Theodor Fontane, Sämtliche Werke, München: Nymphenburger Verlagshandlung, Bd. XXI/l (1963), S. 497-499 und Bd. XXI/2 (1974), S. 741-743.
2 M. B. Chrapcenko, Lev Tolstoj kak chudoznik (Lev Tolstoj als Künstler), Moskau 1965, S. 215.
3 I. N. Uspenskij, Roman „Anna Karenina“. In: Tvorcestvo L. N. Tolstogo (L. N. Tolstojs Schaffen), Moskau 1954, S. 204.
4 Zitiert nach: F.M.Dostojevskij, Polnoe sobranie chudozestvennych proizvedenij, Moskau-Leningrad 1926-1930, Band XI, S. 423.
5 Das wurde u. a. von Eduard Engel in seiner Rezension über die Erzählung „L'Adultera“ (in: Magazin für die Literatur des In- und Auslandes, 1881, Nr. 7 vom 12. Februar) und von Wilhelm Lübke in der Besprechung von „Cdcile“ (in: Allgemeine Zeitung. Augsburg, Nr. 165 und 166 vom 16. und 17. Juni 1887) hervorgehoben.
6 Theodor Fontane. Briefe. Ausgew. von Gotthard Erler, Berlin und Weimar 1968, Bd. 2, S. 383
7 Walter Müller-Seidel, Gesellschaft und Menschlichkeit im Roman Theodor Fontanes. In: Heidelberger Jahrbücher 4 (I960), S. 121.
8 Peter Meyer, Die Struktur der dichterischen Wirklichkeit in Fontanes „Effi Briest“. Diss. München 1961, S. 86.
9 H. W. Seiffert/Ch. Läufer, Fontanes „Effi Briest“ und Spielhagens „Zum Zeitvertreib“. In: Studien zur neueren deutschen Literatur, Berlin 1964, S. 263.
10 I. N. Uspenskij, Roman „Anna Karenina“. In: Tvorcestvo L. N. Tolstogo, Moskau 1954, S. 207.
11 Zitate aus „Anna Karenina“ sind der Ausgabe entnommen: Lew Tolstoi, Gesammelte Werke in 20 Bänden, 2. Aufl., Bd. 6 und 7, Berlin 1967. Die Schreibweise der Personennamen aus „Anna Karenina“ und „Der Tod des Iwan Ujitsch“ folgt dieser Ausgabe.
12 Die Zitate aus „Effi Briest“ sind der Ausgabe entnommen: Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Bd. 7, Berlin und Weimar 1969.
13 M. B. Chrapcenko, Lev Tolstoj kak chudoznik, Moskau 1965, S. 171.
14 V. Ermilov, Roman L. Tolstogo „Anna Karenina“, Moskau 1963, S. 60.
15 I. N. Usoenskij, Roman „Anna Karenina“. In: Tvorcestvo L. N. Tolstogo, Moskau 1954, S. 261.
106