Heft 
(1977) 26
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nung war billig; erst ihre Steigerung auf das Dreifache 1872 zwang meine Eltern zu Wegzug in die Potsdamer Straße. Gar nicht störte in ästhetischer Hinsicht die den Vorderräumen gegenüber sich entlang­ziehende Stadtmauer, die im Gegenteil als Vergleich zu den Häusern anderer Straßen als angenehmes, nicht lärmendes, nicht neugieriges Vis- a-Vis empfunden wurde und schnell gewöhnte man sich an den wohl meist in der Nacht stattfindenden Güterverkehr der Eisenbahn jenseits der Mauer. Diese wurde freilich im Laufe der Zeit ein recht unbequemes Hindernis, weil zwischen hüben und drüben nur am Potsdamer- und dann erst wieder am Askanischen Platz eine Verbindung bestand. In­folgedessen entbrannte ein ebenso stiller wie hartnäckiger Kampf zwischen dem Begehr des Publikums und behördlichem Eigensinn. Als wenn Heinzelmännchen nächtens tätig wären, entstanden in roher Weise hergestellte Mauerdurchbrüche, die eigentlich mehr einen Protest be­deuteten als der Verkehrserleichterung dienten, weil sie nur von kletterkundigen Waghalsen benutzt werden konnten. Zumauerungen seitens der Verwaltung fruchteten nichts; mit heißem Wasser wurde der Kalkmörtel wieder gelöst, das bisherige Loch war wieder da und neue an andern Stellen gesellten sich dazu. Schließlich gab die Behörde den Kampf auf, die Durchbrüche wurden zu bequemen Durchgängen und eines Tages begann die offizielle Niederlegung der Stadtmauer. Der Eisenbahnverkehr blieb allerdings noch längere Zeit bestehen und diente der Güterbeförderung, brachte aber zur Freude der Jugend im Jahre 70 auch Truppen- und Gefangenentransporte; wie dies schon 1866 der Fall gewesen war. 1871 dürften aber die Bahngleise beseitigt gewesen sein, denn mir schwebt vom 16. 6. 71, dem Einzugstag unserer glor­reichen Truppen, her die Siegesstraße in der vollen Breite der König- grätzerstraße einschließlich ihrer wohl damals bereits umgetauften inne­ren Schwestern, der Potsdamer- und Anhalter Kommunikation, als ganz besonders stattlich vor.

Von jenem Einzug selbst bekam ich leider nur wenig zu sehen. Es war erstaunlich, wieviele Leute, mit denen meine Eltern nur ganz oberfläch­lich bekannt geworden waren, plötzlich ihr Herz für Fontanes entdeckten und die Bitte umein ganz bescheidenes Fensterplätzchen aussprachen. Ihnen gesellten sich Verwandte sowie die wirklichen Freunde aus Rütli und Ellora. Trotz kunstreicher Etagenbauten an unsem vier Fenstern blieb aus Höflichkeitsrücksichten für die Kinder des Hauses nur wenig Gelegenheit zum Sehen übrig.

Um weiter von unserer Wohnung zu erzählen, so bin ich noch heute in der Rückerinnerung erstaunt, wie es meine Eltern möglich gemacht haben, unter Aufrechterhaltung einer gewissen Geselligkeit soviel Men­schen dauernd darin unterzubringen, zumal das eigentlich wohl für die Köchin bestimmte Zimmerchen zur Hebung des Budgets nur teilweise seinen Durchgangscharakter behielt, während der verbleibende Rest durch einen verschiebbaren grünen Plüschvorhang für eine der Töchter aus den Häusern Merington in London oder Treutier auf Neuhof bei Liegnitz als Schlafraum umgewandelt wurde. Man war eben damals in Unter-

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