Heft 
(1978) 27
Seite
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Jede Epoche zeigt eine gewisse Kraftentfaltung; auch die unsre leistet ihr Großes, und zwar derart, daß wir das Große, das Allgemeingut der Zeit ist, auch aus der Hand der Kleinen heryorgehen sehen. Darin blieben sich die Zeiten gleich, und wie jeder heutige Durchschnittsingenieur, ohne daß wir ihn sonderlich bewundern, nach voraufgegangenem großen Vorbild, einen Tunnel oder eine Tubularbrücke, eine Riesen­lokomotive oder eine Rigibahn bauen kann, so konnten, nach ihren Vor­bildern, die Durchschnittsleute von damals gotische Dome bauen. .. Unser bestes ist die Tradition. Geht sie verloren, kommt ein Moment,, wo wir in diesem und jenem nicht mehr auf den Schultern vieler Voraufgegangener stehen, so empfinden wir uns klein geworden. Aber an anderer Stelle sind wir um ebensoviel gewachsen. 111 Das ist eine unromantische Sicht, frei von der Illusion der Wiedererwek- kung mittelalterlicher Kunst wird der Verlust großer Traditionen als bedauerliche Tatsache vermerkt, der Blick aber zugleich nach vorn gerichtet.

Gegen den Eklektizismus in der Malerei hat Fontane sich bereits 1852 ausgesprochen. Als er die zeitgenössische Malerei im Genter Museum sah und die Schwäche dieser Werke im Vergleich zur alten nieder­ländischen Malerei empfand, fragte er sich, ob seine Zeit denn wirklich nurNachahmungstalent habe. 17

Besonders kritisch beurteilte er die Versuche, den Stil früher Meister in der Malerei zu imitieren. Über die Fresken von Cimabue im Dom von Pisa schreibt er dazu in seinenErinnerungen:Immer wieder interessiren mich diese Schöpfungen, die noch den Zauber des Naiven, eines großen Wollens bei unausreichendem Können haben, aufs höchste. Sie aber nachzuahmen, scheint mir ebenso verwerflich, wie wenn ein ausgezeichneter Schriftsteller im Dienstmädchenstil schreiben wollte, bloß weil er sehr richtig erkannt hat, daß Dienstmädchenbriefe in ihrer unortographischen Natürlichkeit viel anziehender zu sein pflegen als der bestgeschriebene Durchschnittsbrief. 18

Mit zunehmendem Alter hat sich seine Aversion gegen den Eklektizismus verstärkt. In einem Brief an Friedlaender vom 26. Juni 1869 schreibt er über die Berliner Kunstgewerbeausstellung;Mich interessirt nur wirklich Neues, was etwas ganz' Kleines sein kann, ein Handschuhknopf oder eine Nadel um den Schlips fest zu stecken. In der ganzen Aus­stellung, so weit sie zu einem Nicht-Fachmann spricht, ist auch nicht eine neue Sache; alles Nachahmung, comme toujours . w

Die Bedeutung, die Fontane der Wahrheit der Empfindung in der bildenden Kunst beimaß, zeigt sich in seinen sensiblen Reaktionen auf falsches Pathos und Sentimentales, insbesondere in der Menschendar­stellung. Seine Besprechungen von Genre- und Historienbildern und von zeitgenössischen Werken mit religiöser Thematik enthalten zahlreiche Beispiele. Je anspruchsvoller die Thematik war, um so kritischer prüfte er den Wahrheitsgehalt. Werke mit religiöser Thematik waren deshalb vorzugsweise Gegenstand seiner Kritik.

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