Ihm war bewußt, daß der Wertunterschied zwischen den alten und den zeitgenössischen religiösen Darstellungen nicht allein aus verschiedenem künstlerischen Vermögen resultierte, sondern aus den veränderten Verhältnissen der aufgeklärten Bürger seiner Zeit zur Religion, ihrer Glaubensunfähigkeit, aus dem der Mangel an Wahrheit der Empfindung in diesem Genre der Malerei herrührte. In einer Besprechung von Werken Eduard Gebhards, die in der Berliner Kunstausstellung von 1871 zu sehen waren, erklärt Fontane die mangelhafte Überzeugungskraft der in Anlehnung an mittelalterliche Vorbilder geschaffenen biblischen Gestalten mit dem Wandel der Zeiten. Er schreibt, daß Darstellungen, die einst glaubwürdig waren, nicht in die Gegenwart transponiert werden könnten ohne diese Glaubwürdigkeit einzubüßen, weil das Leben selbst, die Ansprüche und Vorstellungen der Menschen sich geändert hätten. 20 Seine Kritik scheute auch vor so berühmten Bildern, wie der 1876 von Böcklin geschaffenen „Kreuzabnahme“ nicht zurück. Fontanes Fähigkeit, menschliche Verhaltensweisen und Bezüge zu erfassen und zu deuten gab dabei den Ausschag. Er hat dem Gemälde insgesamt seine Bewunderung nicht versagt. Im Detail lobte er die Schönheit der Landschaft und vor allem die Ausdruckskraft der um den Leichnam gruppierten Figuren, Joseph von Arimathia, Petrus und Maria. Die herbe Christusfigur, er vergleicht sie mit einer eckigen mittelalterlichen Holzskulptur, fand weniger seine Zustimmung. Seine berechtigte Kritik galt aber vornehmlich der zweiten Figurengruppe, Johannes und Maria-Magdalena, deren Hang zur Sentimentalität ihm nicht verborgen blieb. 21 Auf der gleichen Ausstellung begegnete er einem Bilde von Gabriel Max . Der Christuskopf auf dem Schweißtuch der Veronika“. Im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit diesem Bild steht die Frage nach der Wahrheit der Empfindung. Er hat sein Urteil nicht auf Anhieb gefunden, sondern sich erst allmählich herangearbeitet und seine ursprüngliche Meinung korrigiert. Dies Vorgehen, das die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung erhellt, läßt sich in Fontanes Bildbesprechungen mehrfach nachweisen. Als er das Gemälde von Gabriel Max zum erstenmal sah, fühlte er sich zwar befremdet unbefriedigt, hielt die Lösung aber doch für möglich. Bei der zweiten Begegnung mit diesem Bilde fällt sein Urteil ungleich härter aus, er kennzeichnet es als sentimental, als ein Bildwerk, das die Welt bald vergessen würde: „Es war eine Andacht vor falschen Göttern. Die Lüge läuft schnell, aber die Wahrheit holt sie ein.“ 22
Abschließend schreibt er über beide Bilder: „Und das ist der Unterschied zwischen dem Christuskopfe Gabriel Max’ und der Kreuzabnahme Böcklins. Der eine, weil er es konnte, stand treu zu seinem Gegenstände, der andere, weil er mußte, kokettierte damit; jener schuf, dieser künstelte.“ 223
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