Zeremoniell“ (1844) und „Vom Menschen“ (1858) geäußert. Sie wurden im Tunnel gelesen bzw., was das letztgenannte angeht, in der „Argo“ gedruckt. Auch Merckels Festrede von 1852 wäre heranzuziehen. Vergleichsweise kann man auf das ebenfalls im Tunnel vorgetragene lange Gedicht von Christian Friedrich Scherenberg „Die Poesie. Glosse auf ein Thema von Herwegh“ (1842) zurückgreifen, das zwar individuelle Nuancen, aber keine grundsätzlichen Abweichungen aufweist. Scherenberg knüpft darin zustimmend an Herweghs Sonett „Den Naturdichtern'' (1840) an.
Was man diesen Quellen zufolge, um die Jahrhundertmitte im Tunnel über Kunst und Dichtung dachte, war im wesentlichen eine verwässerte, ihres gesellschaftlich relevanten Gehalts entledigte Neuauflage der deutschen klassischen und romantischen Kunst- und Literaturtheorie. Sowohl die bildende wie auch die gesellschaftskritsche Funktion der Kunst hat der Tunnel aus dem Auge verloren. Er erwartet von der Kunst nur, daß sie in eine andere, scheinbar höhere Sphäre führt und zugleich unterhält.
Die Auffassung des Tunnels vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst ist geprägt von dem Verhältnis des Vereins zur Gesellschaft. So wie der Tunnel sich prinzipiell von der „Welt da draußen“ abschloß, wie der Verein und die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der er existierte, nach seiner Meinung zwei grundsätzlich geschiedene, unverbundene Bereiche waren, so galt ihm auch die Kunst, insbesondere die Dichtung, als außerhalb des Lebens oder gar über dem Leben stehend. Kunst und Leben hatten nach den ästhetischen Theorien des Tunnels bestenfalls insofern etwas miteinander zu tun, als das Leben der Kunst den Rohstoff liefern konnte, den die Kunst auf ihre eigene Weise zu behandeln, d. h. auf ein „höheres“ Niveau zu erheben hatte.
Denn die Kunst als das Reich der Ideale steht, nach der Ästhetik Wilhelm von Merckels, hoch über der Wirklichkeit, dem Alltag des Lebens. Während in der Wirklichkeit Emst und Zwang, Leidenschaft und Mühe vorherrschen, sind Freiheit, Spiel und Zauber die Elemente der Kunst, aus denen Wonne und Entzücken fließen. Ist die wirkliche Welt von Gegensätzen zerrissen und von Sturm durchpeitscht, so erfreut sich die Kunst der Harmonie, die sich aber nicht aus der Einheit der Gegensätze ergibt, sondern ihrem Wesen nach in der Ruhe besteht. Die Wirklichkeit ist unschön, wenn nicht häßlich, sie ist schmucklos. Der Kunst allein kommt Schönheit zu, aber eine Schönheit, die in der Wirklichkeit nicht begründet ist und folglich nur im Reich der Phantasie existiert. Solche Schönheit ist eine Art Schmuck, ein Luxus, der notfalls auch zu entbehren wäre.
Um aber dem Einwand zu begegnen, die Kunst sei eigentlich nicht notwendig und eben nur eine zufällige Beigabe, ließ Merckel es bei dieser Entzweiung von Leben und Kunst, von Wirklichkeit und Poesie nicht bewenden, sondern versuchte, der Kunst eine pseudoreligiöse Weihe zu verleihen, indem er die Kunst als einen gleichsam heiligen Bezirk noch schärfer von dem unheiligen Raum der Wirklichkeit absetzte. Er
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