Heft 
(1978) 27
Seite
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sind alle darauf angewiesen, uns ehrlich und prosaisch zu quälen .und nebenher unsre Verse zu machen.

Ungeachtet der Förderung, die Fontane im Tunnel als Dichter erfahren hat, wirkte also die Mitgliedschaft in diesem Verein zugleich negativ auf Fontane und hemmte seine Entwicklung, da der Tunnel ihm keine Perspektive zu bieten vermochte und ihm ein mittelmäßiges Niveau aufzwang. Nach den Jahresberichten, die er erstattete, könnte es so scheinen, als habe sich Fontane damit abgefunden und nicht mehr erwartet. Doch die leise Ironie, die in dem GedichtDeliberations-Tun- nel (1856) mitschwingt, läßt ahnen, wie wenig der Tunnel Fontane befriedigte:

Wohl wachsen keine Zedern stolz

In unserm Tunnel-Hain.

Doch denk ich, gutes Fichtenholz

Ist noch in Menge drein.

Erst mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Ausscheiden aus dem Verein gelang es Fontane, sich endgültig von dem Bann der Mittelmäßigkeit freizumachen, den der Tunnel verhängt hatte, und Werke zu schaffen, die heute zur Weltliteratur gehören.

Im Rahmen derselben Mediokrität, in der die poetologischen Anschau­ungen und die dichterischen Leistungen des Tunnels verharrten, blieb auch die im Tunnel geübte Kritik. Da der Tunnel so ziemlich alle Ver­bindungen zwischen der Wirklichkeit und der Kunst abgebrochen hatte, blieben ihm als Kriterien für die Bewertung des Kunstwerkes lediglich dessen Form und innere Struktur. Der Tunnel erwartete, daß sie das rechte Maß einhielten. Insbesondere achteten die Kritiker darauf, daß die Form des Werkes dem Gehalt gemäß war und daß die inhaltliche Aussage die Gesetze der Wahrscheinlichkeit nicht verletzte, wobei als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, daß der Gehalt von den Schlacken des Alltags gereinigt war, also jeneVerklärung erfahren hatte. Realistische Darstellungen, sei es der Liebe, sei es menschlichen Elends, galten als ebenso unerlaubt wie derber Humor oder Kraftausdrücke.

Es war unvermeidlich, daß dem Tunnel, weil er vorwiegend formale Kritik übte, die Sicherheit im Kunsturteil fehlte. Er tat sich zwar viel zugute auf seineberüchtigte Strenge und überschüttete die Vortragen­den gern und oft mit Hohn und Spott, jedoch fast immer in humoristisch gemilderter Form. Um die Sicherheit und Prinzipienfestigkeit der Tun­nel-Kritik stand es schlecht. Das beweisen die nicht seltenen Fälle, in denen das Endurteil zwischen Extremen schwankte, sogar zwischen ..Sehr gut undSchlecht. Außerdem konnte es Vorkommen, daß der Tunnel die ästhetischen Gesichtspunkte zurückdrängte und ein Gedicht positiv bewertete, weil es der konservativen politischen Einstellung des Vereins entgegenkam. In einem Falle geschah das sogar zugegebener­maßen. Allerdings war es auch nicht ausgeschlossen, daß dem Tunnel in solchen Situationen doch ästhetische Bedenken kamen und er sich auf­raffte, dergleichen Machwerke alsgereimte Zeitungsartikel abzuweisen.

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