Heft 
(1978) 27
Seite
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Im ganzen war also die Tunnel-Kritik einem bedenklichen Schwanken ausgesetzt und nicht frei von Willkür.

Dennoch wird man, wenn man die produktive und die kritische Tätigkeit des Tunnels auf dem Gebiet der Literatur in den vierziger und fünfziger Jahren zusammenfassend einschätzen soll, sagen müssen, daß die För­derung, die er jungen Mitgliedern durch Übung im eigenen Schaffen und in der Kritik zuteil werden ließ, höher zu veranschlagen ist als der Beitrag des Tunnels zum literarischen Erbe. Nur wenige Dichtungen von bleibendem Wert sind aus dem Literarischen Sonntagsverein her­vorgegangen.

Das Hauptbetätigungsfeld des Tunnels war die Lyrik, schon deswegen, weil der Dilletant sich an ein lyrisches Gedicht eher heranwagt als an einen Roman oder eine Tragödie. Die Vorliebe für die Lyrik wurde auch durch die geschilderte Arbeitsweise des Tunnels bestärkt, so daß Fontane vom Tunnel sagen konnte, dieser habealle Späne, die über ein Quart­blatt hinausgehn, mit einem unausrottbaren Mißtrauen betrachtet. Dabei hat der Tunnel besondere Verdienste um die Entwicklung der Ballade erworben. Und das verschafft ihm einen, wenn auch beschei­denen Platz in der Geschichte der deutschen Literatur. Neben der Ballade wurde auch das Lied gepflegt, während schwierigere lyrische Genres, wie das Sonett oder die Ode, in diesem von Dilletanten be­herrschten Kreise weniger Widerhall fanden.

Von den Liedern und Balladen des Tunnels sind einige wenige noch heute in den Anthologien zu finden. Zwar nicht jene beiden Balladen, denen Fontane die höchste Bewunderung zollte, nämlichDas Herz von Douglas des Grafen Strachwitz undDer verlorne Sohn von Scherenberg, und noch weniger das früher weit verbreitete Gedicht Heinrich von MühlersGrad aus dem Wirtshaus nun komm ich heraus, sondern Balladen Fontanes wieDer Wettersee,Schloß Eger und ..Archibals Douglas oder Rudolf Löwensteins vom Tunnel anfangs abgelehntes GedichtFreifrau von Droste Vischering.

Immerhin hat der Tunnel damit die deutsche Literatur um einiges bereichert. Allerdings werden nur wenige Leser in Erfahrung bringen, daß z. B. die genannten Balladen zuerst im Tunnel gelesen worden sind. Auch daran ist die ölfentlichkeitsscheu des Vereins schuld, da er sich nur ausnahmsweise entschließen konnte, die in seinen Sitzungen vor­getragenen Dichtungen zu publizieren. Abgesehen von den unbedeutenden drei Bänden derSpenden aus dem Archive des Sonntagsvereins (1829-1832), die der Frühzeit angehören, hat der Verein keine Publika­tion herausgebracht, die erklärtermaßen als Organ des Tunnels auftrat. Die Druckschriften, die er herstellen ließ, wie das HeftBalladen und Romanzen (1851), die verschiedenen Liederbücher und später die ge­druckten Protokolle, waren nur für die Mitglieder, nicht für die Öffent­lichkeit bestimmt und sind wahrscheinlich auch nicht über den Kreis des Tunnels hinausgedrungen. Ferner haben zwar Tunnel-Mitglieder (und Theodor Storm als Rütli-Mitglied) den Inhalt des ersten Bandes derArgo (Dessau 1854) allein bestritten und zu den anderen vier

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