Heft 
(1978) 27
Seite
246
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Buchbesprechung

Carin Uesenhoff: Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Eine literatursoziologische Studie. Bonn, Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1!)76. 171 S. (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissen­schaft. Bd. 228.)

Abgesehen von der Einleitung, die sich mit Wissenschafts theoretischen Fragen und den Methoden der Literatursoziologie in der BRD befaßt und die wir übergehen, besteht das Buch aus zwei Teilen. Sie sind das sei vorweg gesagt von ungleichem Wert.

Im ersten Teil behandelt C. Liesenhoff den sozialen Status und die soziale Lage der deutschen Schriftsteller zwischen 1860 und 1890 sowie das literarische Leben dieser Jahrzehnte in Deutschland. Entsprechend ihrer methodischen Orientierung strebt die Verfasserin als Ausgangs­punkt einenRekurs auf die gesellschaftliche Gesamtsituation an (S. 18) Leider bleibt das, was die Autorin dazu (S. 1828) ausführt, Stückwerk. Zwar ist unbestreitbar, daß die Situation nach 1848 in Preußen dadurch gekennzeichnet war, daß die feudalen Kräfte nach wie vor die Politik Preußens entscheidend bestimmten, daß das Bürgertum politisch schwach blieb und daß Feudalisierung und Militarismus mit Bildungsfeindlichkeit gepaart waren. Aber mit solchen Feststellungen ist diegesellschaftliche Gesamtsituation nicht ausreichend erfaßt. Denn das ist nur die halbe Wahrheit. Man fragt sich, warum die Verfasserin überhaupt nicht darauf eingeht, daß gegen den Feudalismus nicht nur das Bürgertum, sondern auch das Proletariat kämpfte, daß in jener Zeit die Arbeiter­klasse immer größere politische Bedeutung erlangte, die Arbeiterbewe­gung sich entfaltete und die Sozialdemokratie entstand. Die Autorin kann die eminente Bedeutung dieser politischen Fakten für die Haltung des Bürgertums nicht darstellen, da sie die Fakten selbst einfach igno­riert. Man sollte dergleichen in einer in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts entstandenen Arbeit nicht für möglich halten!

Dieses arge Versäumnis hat natürlich seine Nachwirkungen auf fast alle folgenden Darlegungen C. Liesenhoffs. So trifft es allerdings zu, daß der Provinzialismus und der Mangel an Weitläufigkeit, die der deutschen Literatur zwischen 1850 und 1880 zweifellos anhaften, zumal dem bürgerlichen Realismus (S. 63), einerseits die schwache politische Position des deutschen Bürgertums reflektierten (S. 63).Nach dem Scheitern der Revolution erschwerte dieneu etablierte preußische Ständegesellschaft eine soziale Integration und eine künstlerische Identitätsflndung der deutschen Schriftsteller, was, wie C. Liesenhoff übertreibend 1 formuliert, bei allen Autoren zu einer inneren Emigration führte (S. 116). Jeden­falls erfolgte einRüdezug ins Private (S. 33). Doch andererseits waren Provinzialismus und Orientierung auf den häuslichen Herd auch Ausdruck der politischen Abgrenzung des Bürgertums nach links. Nicht nur der enge, kurzgeschlossene Kommunikationskreis zwischen Autor, Verleger und Publikum, den insbesondere die Familienzeitschriften herstellten